Samstag 6. Dezember 2008, 21.10 Uhr Ort: Zentrum von Athen, Exarchia. Der Bulle Korkoneas schießt auf eine Gruppe von Kindern. Durch die Kugeln stirbt der 15jährige Schüler Alexandros Grigoropoulos. Die darauf folgenden mehrwöchigen Unruhen machen den Stadtteil weltweit bekannt. Doch die Geschichte von Exarchia ist schon immer durch den Widerstand gegen den Staat geprägt.
Der älteste überlieferte Zusammenstoß von Studenten mit der Polizei in diesem Viertel fand am 11. Mai 1859 statt und wurde unter dem Namen „Skiadika“ bekannt. Die Auseinandersetzungen spielten sich in den gleichen Straßen wie der Dezemberaufstand 2008 ab und führten zur ersten Besetzung eines universitären Gebäudes.
Der Auslöser war das Zusammenschlagen von Student*innen und Schüler*innen durch Bullen im Pedion tou Areos Park hinter der ASOEE Universität. Danach sind Leute von dort aus durch Exarchia gezogen, um die Freilassung von Verhafteten aus der lokalen Polizeistation zu fordern. Mehrere Tausend Menschen versammelten sich anschließend vor der Verwaltung der Universitäten bei Propylia und besetzten ein Gebäude, welches der Präsident der Uni durch Bullen räumen ließ. Die Solidarität aus der Bevölkerung war groß, die folgenden Demonstrationen gerieten außer Kontrolle.
Eine Besonderheit von Exarchia ist, dass das Viertel von mehreren historischen Universitäten umgeben ist, nämlich die ASOEE (Wirtschaftsuni), Nomiki (Juristische Fakultät), dem Polytechnio und der Chemischen Universität. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde diese Gegend nach dem einflussreichen Händler Exarchos benannt, es gab jedoch auch immer Spekulationen, weil der Name Exarchia in seiner Bedeutung auch mit „außerhalb von Herrschaft“ übersetzt werden kann. Zuvor wurde das Viertel Pitharadika (was soviel bedeutet wie Krugwerkstatt ) genannt, kykladische Handwerker siedelten sich 1840 dort an, 1873 wurde die Polytechnio Universität gegründet, was einen Zuzug von Studierenden auslöste. Diese äußerten kurz nach den Olympischen Spielen 1896 ihren Unmut über die Zusammenarbeit von Bullen und Professoren – darauf wurde Exarchia zum Schauplatz von Demonstrationen und Zusammenstößen, die auch im November 1901 wieder aufflammten. Hier war vordergründig eine Bibelübersetzung in modernes Griechisch durch eine Zeitung der Auslöser, weshalb sie als Gospel-Riots in die Geschichte gingen. Acht Demonstranten wurden bei Unruhen, die sich gegen die Macht der Kirche richteten, getötet.
1932 wurde das erste mehrstöckige Haus in Exarchia gebaut, das Blaue Haus an der Platia Exarchion, wo sich heute das Cafe Floral befindet. Es siedelten sich nun viele Handwerker, Künstler und Rembetiko Musiker an. Während der Deutschen Besatzung fand eines der ersten Treffen der Widerstandsorganisation EAM am 27. September 1941 in Exarchia statt. Hinter dem Polytechnio kam es am 5. März 1943 zu Kämpfen zwischen Bürgern und Einheiten der Kollaborationsbehörden, weil sich Demonstrationen gegen die Verschleppung von Griechen zur Zwangsarbeit nach Deutschland richteten. Die ELAS Partisanen nutzten den Berg von Exarchia – den Lofos Strefi, als Rückzugsort. In diesem Bereich entwickelten sich beim Beginn des Bürgerkriegs nach dem Abzug der Deutschen Wehrmacht heftige Gefechte mit den verbliebenen Sicherheitsbattallionen der Kollaborationsregierung, royalistischen Gruppen und mit ihnen verbündeten Britischen Truppen. Die ELAS nutzte das Blaue Haus als Waffenlager und schoß von dem Gebäude während der Dekemvriana (Dezember Ereignisse, markieren den Beginn des Bürgerkrieges gegen die siegreichen Partisanen) 1944 einen britischen Panzer ab, als dieser von der Stournari Straße das Tor des Polytechnio durchbrechen wollte. Analog zur heutigen Situation operierten auch damals Briten, royalistische EDES Verbände und faschistische Gruppen von Kolonaki (reiches Viertel, welches östlich angrenzt und etwas höher liegt) aus kommend gegen Exarchia.
Der Studentenaufstand gegen die Militärdiktatur der Obristen ( 21. April 1967 bis 15. Juli 1974) begann im Februar 1973 mit der Besetzung der Juristischen Fakultät Nomiki am Rand von Exarchia. Die Studierenden protestierten damit gegen die Unterdrückung ihrer demokratischen Rechte und gegen die Folter. Im November 1973 spitzte sich die Situation zu als Studierende von der Chemischen Universität kommend, das Polytechnio besetzten und Tausende Arbeiter*innen, Schüler*innen und andere Regimegegner dazu stießen. Zwischen dem 15. und 18. November 1973 richteten die Bullen und Militärs in Exarchia und anderen Orten ein Massaker an, bei dem 30 Menschen getötet und Hunderte verhaftet, gefoltert und verletzt wurden.
In den Jahren nach dem Ende der Junta, die als Metapolitefsi bezeichnet wird, entwickelte sich Exarchia zu einem Zentrum antiautoritärer und linker Gruppen, Künstler, Intelektuelle und Militante zogen in den Kiez. Die anarchistische Dichterin und Schauspielerin Katerina Gogou (1940 – 1993) repräsentierte in ihrem Wirken das Lebensgefühl einer unangepassten Generation.
Platia Exarchion – zwischen der Ordnung der Diktatur und dem wirtschaftlichen Aufschwung, Foto von 1974
Zwischen 1978 und 1980 entstand die Bewegung der Hausbesetzungen in Griechenland von diesem Viertel ausgehend. Grund genug für die Zeitung Rizopastis, Zentralorgan der KKE (Kommunistische Partei Griechenlands), Exarchia als Raum von Angst und Schrecken zu verunglimpfen, in dem Anarchisten ihre Gesetzlosigkeit mit Drogen und einem american way of life ausüben würden, als Provokateure im Auftrag der abwesenden Polizei die Platia besetzen würden.
Außer den Kommunisten glaubte niemand diesen Lügen, stürmten doch die Bullen am 8. April 1980 eine bekannte Taverne im Viertel, verhafteten 100 Menschen und beendeten das Musikprogramm wegen kritischen Texten. Galten die 70er Jahre als Vorboten einer Revolution, waren die 80er in Exarchia von ständigem Aufstand geprägt. Der Punk spielte eine wichtige Rolle und im September 1984 kam es vor der ASOEE Universität zu schweren Krawallen mit Stalinisten, nachdem die KNE (Kommunistische Jugend Griechenlands) ein Punk Konzert als Soli für Gefangene in der Uni verhinderte.
Punks waren die neuen Feinde für die Presse und die Medien propagierten eine Säuberung der Gegend, was auch angeblich die „normale“ Bevölkerung fordern würde. Einer dieser besorgten Bürger war Makis Voridis, der 1984 von der Vereinigung der juristischen Studierenden ausgeschlossen wurde und die Führung der faschistischen EPEN Jugendbewegung übernahm.
Hier patrouilliert er mit einer Axt bewaffnet zusammen mit anderen „normalen Anwohnern“ in Exarchia.
Nach Zwischenstationen als Abgeordneter diverser Nazi Parteien wurde er 2012 Fraktionsvorsitzender der ND ( ähnlich CDU) und Gesundheitsminister.
Exarchia wird Experimentierfeld für Aufstandbekämpfung – neue Bulleneinheiten und Bürgerwehren aus Blockwarten werden von PASOK (sozialistische Regierungspartei) ins Rennen geschickt. Der Säuberungsplan für Exarchia beginnt am 28.9.1984 – hundert uniformierte Bullen und Zivis marschieren ein, verhaften wahllos Punks und Jugendliche auf den Straßen und Plätzen Exarchias. Diese Einsätze finden nun praktisch täglich statt und am 1. Oktober 1984 fangen die Leute an sich zu wehren. Mit der Razzia beginnt auch eine Straßenschlacht als die Bullen das VOX Kino angreifen.
Die folgenden zwei Jahre, nachdem die MAT (Einheit zur Wiederherstellung der Ordnung) so auf der Platia erschienen ist, war die Gegend geprägt von Zusammenstößen und einem Klima der Gewalt; eine Zeit in der kein Stein fest an seinem Platz blieb, Molotovs flogen als das Viertel durch seine Menschen leidenschaftlich verteidigt wurde. Ständige Angriffe auf die Busse der MAT in der Stournari Str. und Harilaou Trikoupi Str. (die gleichen Orte wo sie auch heute noch stationiert sind und angegriffen werden) durch kleine, gut organisierte Gruppen. Im Frühjahr 1985 ist der vorläufige Höhepunkt der Repression erreicht, am 27. April 1985 regnet es Molotovs auf die Bullen, als diese wieder im Viertel wüten, Menschen in Shops zusammenschlagen und acht Personen verhaften.
Eine anarchistische Zeitung ruft für den 9. Mai zu einer Demo auf, Motto: Die Bullen sollen aus Exarchia verschwinden. Trotz Demoverbot sammeln sich die Leute und werden von der MAT zerschlagen. Vierzig Menschen flüchten darauf in die Chemische Universität und besetzen diese bis zum 13. Mai. Ein Großaufgebot der Bullen belagert das Viertel und riegelt es ab, Faschisten tauchen am Rand auf und unterstützen die Bullen. Nach einer großen Demonstration antiautoritärer Gruppen zur Chemischen Fakultät, kommen die Besetzer*innen heraus.
Ein weiteres Ereignis sollte für den Stadtteil und seine Bewohner*innen prägend werden. Wie jedes Jahr fielen am 17. November 1985 Bullen in das Viertel ein, um Proteste anlässlich des Jahrestages des Polytechnio Aufstands zu unterdrücken. Dabei wurde der 15-jährigen Michalis Kaltezas in der Stournari Straße ermordet.
Titelseite einer Zeitung mit Foto von Michalis Kaltezas
Er wurde während der Auseinandersetzungen vom Bullen Melistas erschossen. Sofort wurde die Chemische Universität besetzt, zu deren Erstürmung durch die Bullen der Unipräsident am nächsten Tag die Erlaubnis gab. Wer den Bullen in die Hände fiel wurde misshandelt, einige Leute konnten durch die Kanalisation entkommen. Es folgten tagelange Unruhen mit den Spezialeinheiten des demokratischen Regimes.
Zum ersten Mal seit 1976 wurde ganz Athen von der MAT im Tränengas erstickt. Die Zusammenarbeit von Bullen und Faschisten wurde überdeutlich und die Leute verloren jedes Vertrauen in PASOK.
Zum Jahreswechsel 85/86 schrieben die Zeitungen vom „Staat von Exarchia“, der als Ort der Prostitution, Kriminalität und Drogen dargestellt wird, wofür Anarchisten verantwortlich wären.
Als am 17. Februar 1986 Anarchisten eine Gruppe von Heroindealern vom Exarchia Square vertreiben, werden sie von Bullen verhaftet, die auf die Hilfe der Dealer bei der Zerstörung der sozialen Beziehungen angewiesen sind.
In der nächsten Phase gab es Pläne der Stadtverwaltung, Exarchia mit mehr Fußgängerzonen, Bars und Shops für Touristen attraktiver zu machen, dazu schrieb die Zeitung Eleftherotypia am 18.6.93: „Exarchia wird das neue Plaka (teures Touriviertel im Zentrum Athens) werden“.
In den 90er Jahren blieb Exarchia Kampffeld, PASOK kam 1993 wieder an die Macht und ließ direkt die ASOEE stürmen, wobei 52 Menschen verhaftet wurden. Dutzende Verhaftungen von Anarchist*innen gab es auch am 17. November 1994 außerhalb des Polytechnio, vorausgegangen waren Angriffe der Bullen auf Squats.
Die bis heute bekanntesten Bilder entstanden am 17. November 1995, als 504 Besetzer*innen des Polytechnio verhaftet wurden und die Bullen das Uniasyl brachen. Die Uni war besetzt worden nachdem es im Knast von Athen zu Hungerstreiks und Ausschreitungen gefangener Genossen kam.
Die Bilder von den Leuten, die aus dem Tor des Polytechnio geführt werden, erinnerten die Öffentlichkeit an Bilder aus dem Warschauer Ghetto.
An diesem Tag wurde eine neue Generation von Kämpfer*innen politisiert.
Im Jahr 2007 geriet Exarchia wieder in den Fokus der Presse, als sich im Viertel die Proteste der Studierenden verschärften, einfallsreiche Überschrift war jetzt: „Exarchia, Staat der Vermummten“
Immer noch ist Exarchia der Ort, wo sich die Menschen kleine Freiheiten erkämpfen, sei es der
Navarinou Park, der 2009 besetzt wurde und einen Parkplatz in eine der wenigen grünen Flächen verwandelte oder Strukturen mit kostenloser Gesundheitsversorgung, Orte an denen Essen an Bedürftige verteilt wird, Märkte ohne Zwischenhändler und Steuerabgaben… Immer wieder werden auch Gebäude besetzt, als politische Squats, als stille Squats von Wohnungslosen, für Flüchtlinge.
Die Präsenz des Staates, vertreten durch die Polizei ist schwankend, Ende der 90er Jahre waren die Bullen manchmal sehr stark durch eine Art Checkpoints präsent, nach den schweren Unruhen im Dezember 2008 waren sie komplett abwesend. Gelegentlich wurden zivile Beamte im Viertel überfallen und entwaffnet. Im Sommer 2010 marschierten MAT Einheiten sehr oft zur Provokation ins Viertel ein, die neu gegründete DELTA Einheit terrorisierte den Kiez. Auch der Widerstand ist Schwankungen unterworfen, aktuell werden seit fast zwei Jahren wieder wöchentlich die um das Viertel postierten Einheiten der MAT angegriffen. Die Bereitschaftspolizei umzingelt Exarchia seit Jahren, manchmal mit acht Bussen, momentan mit zwei Bussen und Motorradeinheiten.
Die Polizei hat keine Freunde in diesem Gebiet, unterschiedlich ist nur die Akzeptanz für Angriffe auf Bullen. Die älteren Anwohner*innen nehmen an bestimmten Daten auch an Zusammenstößen teil, sehen aber oft auch das Abfackeln von Mülltonnen und Autos kritisch. Kontinuierlich entstehen neue Generationen von Randale Kids, die dann zusammen mit Studierenden das antiautoritäre Spektrum am Leben halten. Der Staat versucht hier mit der Verbreitung von Gras und Heroin gegen zuhalten, ist damit auch teilweise erfolgreich. Der soziale Flügel der anarchistischen Gruppen säubert regelmäßig das Viertel von antisozialen Dealern, die in den letzten Jahren auch einige Leute angestochen haben und sich untereinander auch mal erschießen.
Im Sommer 2012 griffen Junkies und Dealer/Spitzel die Platia Exarchion an, in dem sie mit Flaschen auf Leute warfen. Zu ihrer Unterstützung eingesetzte Bullen warfen Gas und schossen in die Luft. Die Bewohner*innen rufen bei Kriminalität keine Bullen, Shops schützen sich mit mafiösen Sicherheitsleuten, vieles wird ohne den Staat geregelt, die Leute passen mehr aufeinander auf. Außerdem gibt es eine seit Jahren im Viertel stark verankerte Nachbarschaftsversammlung, in der sich sowohl der anarchistisch/antiautoritäre Raum, als auch einfache Anwohner*innen vereinen und gemeinsames Handeln und Leben im Kiez gestalten. Problematisch ist natürlich die Rolle von SYRIZA, entstand die Partei vor Jahren unter starkem Einfluss von Basisaktivist*innen, übt sie inzwischen wie jede andere Regierungspartei Gewalt aus. Die Leute in Exarchia wählen zwar leider auch SYRIZA, aber die Partei kann sich auf lokaler Ebene nicht so durchsetzen weil Unterwanderungsversuche von selbstorganisierten Strukturen auf Gegenwehr stoßen.
Anfang 2016 erfand die Presse eine neue Bezeichnung für dieses Gebiet: In „Exarchistan“ können sich Politiker und Bullen nicht frei bewegen jammerten Polizeigewerkschaften und Abgeordnete in der gleichgeschalteten Medienlandschaft.
Jugendliche und Anwohner*innen verteidigen den Kiez im Dezember 2015, Stournari Straße: