Brandstiftung mit Forderungen – zu den schwedischen Ausschreitungen

der folgende Text ist eine gekürzte Version von Kommunisierung.net :

Vor 30-40 Jahren konnte es sich der Staat leisten, eine Million Wohnungen in zehn Jahren zu BAUEN, jetzt ist er sogar zu arm, um sie zu RENOVIEREN.

Megafonen – „Alby steht nicht zum Verkauf“

Dieser Ausruf ist höchst repräsentativ für den Aktivismus, welcher in den Vorstädten Stockholms in den letzten Jahren gediehen ist. In diesem Fall kommt er von Megafonen („Das Megafon“), eine basisdemokratische Aktivistengruppe, welche 2008 in der Stockholmer Vorstadt Husby von jungen Leuten rund um Prinzipien wie Demokratie, Gemeinwohl, Gemeinschaft, Arbeit und Bildung gegründet worden ist. Der Staat, sagt Megafonen hier, erfüllt seine eigene Aufgabe nicht mehr, welche darin bestehen würde, das materielle Wohlbefinden der Leute durch Wohnungspolitik zu garantieren.

Die Ambivalenz dieser Perspektive ist schon klar in der nostalgischen Anspielung auf die Blütezeit des schwedischen sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates, repräsentiert durch die staatliche Wohnungspolitik, welche zum Bau von „einer Million Wohnungen“ zwischen 1965 und 1974 führte. Einerseits anerkennt sie Budgetkürzungen, Privatisierungen, Schliessungen usw. als Symptome einer bereits existierenden kapitalistischen Restrukturierung. Andererseits stellen sich ihre Handlungen als Affirmation dessen heraus, was von der Infrastruktur und den politischen Institutionen übrig geblieben ist, welche die schwedische Arbeiteridentität formten, z.B. staatliche Wohnungen.

Diese Ambivalenz kann Sinn ergeben: Durch den Kampf gegen das Fortschreiten der Restrukturierung verteidigt man gleichzeitig das, was noch nicht umgestaltet worden ist. Doch dann lässt man ein wesentliches Produkt der Zerstörung der Arbeiteridentität beiseite: das Ende der politischen Existenz des Proletariats in Schweden, welches in den ärmsten Gebieten von der Entwicklung von undeutlichen Ausschreitungen zwischen 2008 und heute begleitet worden ist. Wenn wir die Praktiken dieser Ausschreitungen in Betracht ziehen, erscheint die Ambivalenz jener Art des Aktivismus von Megafonen – die Tatsache, dass er innerhalb jenen Aspekten funktioniert, welche das Ende der Arbeiteridentität verkörpern, und gleichzeitig versucht, sich auf den Überbleibseln dieser Identität zu organisieren – als ein Widerspruch zwischen den Bedingungen, unter welchen er existiert, und seinen Perspektiven. In einer Zeit, wo das Proletariat, welches die es definierende Arbeitskraft verkaufen muss, strukturell vom kollektiven Verhandlungstisch ausgeschlossen ist, bekräftigt dieser Aktivismus durch seine Verurteilung „des Staates“ und seiner verschiedenen Institutionen immer noch die Möglichkeit eines Dialogs und einer Zukunft innerhalb dieser Gesellschaft. Kurz gesagt verteidigt er einen Wohlfahrtsstaat, der nicht mehr existiert.

Es wäre verlockend, diesen Widerspruch entlang einer Achse Revolte-Reform zu analysieren, in welcher die Ausschreitungen die zerstörerische Sprache der Brüche und die Aktivisten die konstruktive Sprache der Politik verkörpern würden. Die Ausschreitungen wären eine blosses Symptom der Zerstörung der Arbeiteridentität, während die Aktivisten ein Mittel dagegen suchen würden. Doch wenn man sich die Ereignisse in einer langfristigen Perspektive näher anschaut, ist dieses politische und theoretische Konstrukt nicht passend. Selbstverständlich sind die Ausschreitungen nicht harmonisch mit diesem Aktivismus vereint. Die Praktiken des Anzündens von Autos und Hauptquartieren diverser Institutionen oder des Kampfes gegen die Polizei und die Feuerwehr unterscheiden sich qualitativ von Praktiken wie das Fordern spezifischer politischer Veränderungen und der expliziten Darlegung, was die Funktion von Institutionen sein sollte. Doch in Anbetracht sowohl der Subjekte, welche diese Praktiken ausüben, als auch der Praktiken selbst, ist das Verhältnis zwischen Ausschreitungen und Aktivismus nicht das von zwei klar unterschiedlichen Lagern.

Sechs Jahre nach den Ausschreitungen in Malmö, fünf Jahre nach den Ausschreitungen in Göteborg und mehr als ein Jahr nach den Ausschreitungen in Stockholm und anderen schwedischen Städten hindert uns der Mangel an Texten über diese Ereignisse sogar daran, zu beschreiben, was während diesen Ausschreitungen geschah. Es braucht also in erster Linie eine Beschreibung der Entstehung sowohl der Ausschreitungen als auch des Aktivismus in den Vororten dieser Städte zwischen 2008 und letztem Jahr. Die Fokussierung auf die Praktiken, aus welchen einerseits die Ausschreitungen, andererseits der Aktivismus zusammengesetzt sind, muss durch eine Darstellung sowohl ihrer historischen Hervorbringung, als auch von dem ergänzt werden, was die sogenannten Vorstädte heutzutage strukturiert. Dies wird uns dazu führen, einen Blick auf das innere Verhältnis der Ausschreitungen und des Aktivismus in diesen Vorstädten zu werfen, und eine Frage zu formulieren, welche über den schwedischen Kontext hinausgeht: jene der gesellschaftlichen und politischen Integration.


Besetzungen, Kampagnen – und Ausschreitungen

Die „Ausschreitungen von Stockholm“ zwischen dem 19. und dem 27. Mai 2013 entstehen nicht einfach in einem gesellschaftlichen Vakuum. Ihnen gingen andere schwedische Ausschreitungen voraus, v.a. jene in Malmö 2008, welche mit der Besetzung eines öffentlichen Raumes begannen, die Ausschreitungen in Göteborg 2010-2011, welche in der Entstehung einer Bewegung für die Modernisierung der Vorstädte kulminierten, und zu guter Letzt sind die „Ausschreitungen von Stockholm“ 2013 selbst untrennbar mit einer spezifisch auf Stockholm bezogenen Geschichte der Verteidigung öffentlicher Dienstleistungen verbunden. Wenn wir uns die Praktiken dieser Ereignisse näher anschauen, kommt das zerbrechliche Verhältnis zwischen Ausschreitungen und Aktivismus zum Vorschein. Wie wir sehen werden, koexistieren Ausschreitungen in den Vorstädten mit Bürgerprotestbewegungen mit expliziten Forderungen, obwohl sie ihre eigenen spezifischen Taktiken entwickeln. Im schwedischen Kontext sind die Ausschreitungen in den Vorstädten im Kontext der Verteidigung des öffentlichen Raumes oder gegen Mieterhöhungen zutage getreten und als solche können sie als eine Art illegitimer Verhandlungsführung gesehen werden.

In diesem Kontext, sowohl in Bezug auf Subjekte, als auch auf Praktiken und politische Resultate, sind die „Ausschreitungen von Stockholm“ 2013 ein Produkt einer längeren zeitgenössischen Geschichte von Ausschreitungen. Wir könnten sagen, dass diese Geschichte in einem Teil von Malmö namens Rosengård im Dezember 2008 begann. Den Ausschreitungen in Rosengård ging eine Besetzung in Herrgården voraus, ein Quartier von Rosengård. Die Besetzung wurde von lokalen Jugendlichen mit einem Immigrationshintergrund und einigen weissen Wohnraumaktivisten aus anderen Teilen der Stadt organisiert. Während 16 Jahren wurde dieses Lokal vom muslimischen Kulturverein als Moschee genutzt, doch auch – eine Tatsache, die in den meisten Berichten über die Ereignisse ausgelassen wird – von 20 anderen Vereinen für kulturelle und Bildungsaktivitäten wie Jugendfreizeitgestaltung, Nachhilfeunterricht und so weiter. Mit den geplanten Renovationen des Quartiers dachte Ilmar Repalu, ein lokaler Sozialdemokrat, sowie ein Repräsentant von Contentus, die Immobilienfirma, welcher die Liegenschaft gehört, dass die Moschee nicht mehr „ins Bild passt“. Um eine solche Haltung zu verstehen, muss man berücksichtigen, dass Rosengård, in etwa wie Husby in Stockholm oder Backa in Göteborg, ein Gebiet ist, wo als Resultat der in den 1970er Jahren beginnenden Veränderung des Arbeitsmarktes und der wachsenden Arbeitslosigkeit fast nur Einwanderer der ersten oder zweiten Generation wohnen, wovon ein grosser Teil Muslime sind. Diese „Vorstädte“, welche früher Quartiere mit öffentlichen Wohnungen für die Arbeiterklasse waren, sind nun zu einem der seltenen Orte geworden, wo die Mieten und Wohnungen für Neuankömmlinge mit einem Flüchtlings- oder Familiennachzugshintergrund, aber auch für Arbeitslose, Langzeitkrankgeschriebene, ehemalige Häftlinge, Früh- oder kranke Rentner usw. zugänglich sind. Während solche Vorstädte in den 1960er und 1970er Jahren als Rückzugsort für Gangs oder Drogensüchtige wahrgenommen wurden, ist ihr Symbol nun ein anderes Bild der Andersartigkeit: jenes des Einwanderers aus dem Mittleren Osten oder Afrika, häufig mit dem Islam assoziiert.

Die Polizei intervenierte allerdings erst am 12. Dezember, während der dritten Woche der Besetzung, mit voller Kraft im Lokal – Schlammstiefel, Hunde, Schilder, Knüppel und Pfefferspray. Gemäss allen involvierten Parteien war die Nacht nach der Räumung wahrscheinlich die ruhigste der Woche. Immer mehr Leute versammelten sich, um die Besetzung zu verteidigen, die Polizei musste sie also erneut aus dem Lokal heraustragen. Ungefähr eine Stunde später kehrte wieder Ruhe ein, doch die Besetzung dauerte an, sie hatte sich einfach auf den Rasen davor verlagert. Die Leute blieben für mehrere Tage und Nächte im Umkreis der Polizei, sie fuhren mit den Aktivitäten fort, welche gewöhnlich im Gebäude stattfanden.

Zu Ausschreitungen kam es erst am Montag 18. Dezember. Jugendliche aus dem Quartier, welche an der Besetzung teilgenommen hatten, und ihre Freunde, die meisten davon männlich und jünger als 18, begannen, sich in kleinen Gruppen zu versammeln, und in der Gegend von Herrgården herumzuziehen. Zu Beginn wurden einige Container und Mülleimer in Brand gesetzt und die Scheiben einer anderen Immobilienfirma, Newsec, zerstört. Am Tag danach ging es gleich weiter, während die Polizei begann, aktiver zu intervenieren. Einer der Verhafteten wurde durch Gewalt befreit, ein Offizier wurde zu Boden geschlagen, Steine wurden auf die Feuerwehr geworfen. Schliesslich versammelten sich einige Jugendliche aus dem Quartier und griffen die Bullen an, welche vor dem Lokal standen. Sie warfen Steine auf sie und rannten weg. Währenddessen standen immer noch Kinder, jüngere und ältere Leute vor dem Lokal. Nachdem sie es zwei Tage und Nächte ununterbrochen bewacht hatte, entschied die Polizei, den Zugang zu versperren, indem sie mit Lastwagen grosse Container davor stellte. Dies führte nur dazu, dass der allgemeine Ärger eskalierte. Am Mittwoch verbreiteten sich Brandstiftungen, Angriffe auf die Polizei mit Feuerwerk, Steinen und Glasflaschen sowie Angriffe auf die Büros der lokalen Immobilienfirmen im ganzen Gebiet von Herrgården. Der Polizeiposten im Zentrum von Rosengård wurde angegriffen. Die Leute setzten Mülleimer mitten auf dem Ramels väg, eine zentrale Strasse in Rosengård, in Brand, um den Verkehr zu unterbrechen. Als die Feuerwehr kam, wurde sie mit Feuerwerk und Steinen verjagt. An diesem Mittwoch kamen auch ein Dutzend autonome Aktivisten, einige mit Verbindungen zur Antifaszene, in diesen Teil von Rosengård, doch sie versammelten sich nur sehr kurz, bevor sie alle von der Polizei eingekesselt und verhaftet wurden (19 Leute, welche nicht aus dem Quartier kamen, wurden verhaftet). Am nächsten Tag, Donnerstag, wurde der Polizeiposten im Zentrum von Rosengård komplett zerstört, während die lokalen Büros der Immobilienfirmen Contentus und Newsec zerstört und geplündert wurden (einige Computer und andere Wertgegenstände wurden gestohlen). Schlagkräftige selbst gemachte Bomben begannen in gewissen Gruppen zu zirkulieren. Ganz Rosengård brannte. Die Leute bauten die Barrikaden sogleich wieder auf, nachdem die Polizei sie zerstörte, doch nur wenige griffen die Polizei direkt an, wenn sie kam.

Die Polizei, welche am Mittwoch und Donnerstag buchstäblich verjagt worden war, gewann am Freitag die Kontrolle über das Gebiet zurück, sie wurde von Verstärkungen aus den zwei grössten schwedischen Städten, Göteborg und Stockholm, unterstützt. Mehrere Hundert Beamte der Aufstandsbekämpfungseinheit waren nun konstant präsent in Herrgården. Obwohl die lange Phase intensiver Brandstiftungen, der Angriffe auf die Polizei und des Bauens von Barrikaden, welche wir die „Ausschreitungen von Rosengård“ nennen könnten, vorbei war, gingen diese Praktiken weiter. Am 16., 17. und 18. März wurden z.B. mehrere aufgrund der schlechten Müllverwaltung der lokalen Immobilienfirmen überfüllte Mülleimer sowie eine Recyclingstation in Brand gesetzt und Steine auf die ankommende Feuerwehr geworfen [3]. Am 2. Juli 2009 wurden erneut Steine auf die Bullen geworfen und Container am Ramels väg in Brand gesetzt. In Rosengård kam es auch zu kleinen Ausschreitungen im April 2010. Das allgemeine Klima war so angespannt, dass sich Hunderte innerhalb weniger als einem Tag versammelten, als es Berichte gab, dass jemand von den Bullen schlecht behandelt worden war.

Während den folgenden Monaten im Jahr 2009 kam es immer häufiger zu Brandstiftung in und um Göteborg, mehrere Stunden entfernt von Malmö. Es wurden auch Steine auf die Polizei geworfen und die Scheiben verschiedener Institutionen zerstört. Am 10. August verhafteten die Bullen eine Person, die des illegalen Waffenbesitzes verdächtigt wurde, und während dieser Verhaftung wurden zehn Kunden eines Ladens in Backa auf die Strasse gezerrt und durchsucht. Am 4. April 2011 verfolgte die Polizei zwei Typen, die einige Jeans in einem Kleiderladen in Göteborg gestohlen hatten, und fuhr mit ihrem Auto in sie, wobei einer schwer verletzt wurde. Es kam am folgenden Tag zu Ausschreitungen, die zwei Nächte dauerten: In Backa wurden Autos angezündet und wieder Steine auf die Polizei geworfen.

In Stockholm war 2008 auch ein entscheidendes Jahr. Die neue Taktik, Brände zu legen, um die Bullen und die Feuerwehr anzuziehen und Steine auf sie zu werfen, wurde in den Vorstädten eingeführt, was eine Veränderung hin zu einer aggressiveren Haltung gegenüber der Polizei markiert. Während die Ausschreitungen in Rosengård im Dezember 2008 im Gang waren, wurden Autos in Brand gesetzt und es kam auch in Tensta im Nordwesten Stockholms zu Konfrontationen mit der Polizei. Anfang 2009 dehnten sich die Ausschreitungen auf die nahen Gebiete Husby und Akalla aus: Bullen berichteten, dass Randalierer schrien, dass sie sie „in Sympathie mit unseren Brüdern in Rosengård“ angriffen. Im Juni 2009 wurde die Feuerwehr in Husby und Tensta angegriffen. Zwischen August und Oktober kam es zu vielen Brandstiftungen in den Quartieren Gottsunda und Stenhagen in der Stadt Uppsala nördlich von Stockholm. Es begann, als eine Polizeipatrouille nach Verstärkung rief, nachdem Steine auf sie geworfen worden waren. Im Oktober 2009, nach einer eine Stunde dauernden Razzia in einem Jugendzentrum, weil ein grüner Laser auf die Polizei gerichtet worden war, brannten etliche Autos in Fittja, eine andere Vorstadt im Norden Stockholms. Im September 2010 beschädigten junge Leute aus dem Quartier die U-Bahn-Station von Husby und griffen den lokalen Polizeiposten aufgrund der Verhaftung von einem Freund von ihnen an.

Im Verlauf der Jahre 2010 und 2011 konnten die Aktivistengruppen, welche sich seit den 2000er Jahren im Nordwesten Stockholms entwickelt hatten, einige Siege feiern. Es ist wichtig, zu betonen, dass die Leute in Organisationen wie Megafonen aus den Vorstädten wie Husby, Rinkeby und Hässelby kommen, wo sie aktiv sind, und dort leben.
Eines der Themen von Megafonen war das Projekt der „Aufwertung Järvas“ (Järvalyftet), welches 2007 begann. Die Stadt Stockholm plant strukturelle Stadtreformen, welche damals u.a. in Husby darin bestanden, die „Verkehrstrennung“ zwischen Strassen und Lebensräumen aufzuheben, die bestehenden Fussgängerbrücken zu demolieren und eine neue Autobahn durch Rinkeby und Tensta zu bauen. Megafonen lehnte das ab und während der Besetzung eines Freizeittreffs in Husby namens Husby Träff, dessen baldige Schliessung geplant war, stellte die Organisation zwei Reihen von Forderungen vor. Erstens die Einsetzung eines lokalen Ausschusses in jedem Quartier, welcher auf „Jobs“ und „Bildung“ fokussiert wäre, was den Einwohnern durch die lokalen Vereine von Husby „wirkliche Macht“ geben würde. Zweitens die Einstellung des Husby strukturplan, des spezifischen Teils der „Aufwertung Järvas“, welcher Husby betraf. Diese Aktionen verhinderten die geplante Schliessung mehrerer Schulen (die Bredbyschule und die Bussenhusschule), der Quartierpost, des lokalen Gesundheitszentrums und des Steuerbüros von Tensta nicht.

Anfang April 2013 kam es im Quartier Risingeplan in Tensta, eine andere Vorstadt im Nordwesten Stockholms, erneut zu Ausschreitungen. Zwei Recyclingstationen und zwei Autos wurden in Brand gesetzt und die gleiche Nacht wurde die Forderung überall im Quartier an die Wände gesprayt: „SENKT DIE MIETEN“ (SÄNK HYRAN). Als die Polizei und die Feuerwehr eintrafen, wurden sie erstaunlicherweise reingelassen, wahrscheinlich, weil die Randalierer wollten, dass die Forderung gesehen wird. Sechs Jahre zuvor betrug die monatliche Miete in diesem Quartier für eine Fünf-Zimmer-Wohnung 7900 schwedische Kronen; zu dieser Zeit mindestens 11700 schwedische Kronen und während den Monaten März und April 2013 wurden die Einwohner informiert, dass es eine retroaktive Mieterhöhung für ein Jahr geben würde. Der Kampf gegen diese Veränderungen nahm zuvor andere Formen als Ausschreitungen an. Einige junge Leute aus dem Quartier lancierten die Kampagne „Die Zukunft von Risingeplan“ (Risingeplans framtid) mit dem expliziten Ziel, mit den Medien zu sprechen, um auf die Probleme ihrer Umgebung aufmerksam zu machen. Die Kampagne hob nicht nur die hohen Mieten hervor, sondern auch die schlechte Behandlung der Einwohner durch Dienstleistungs- und Unterhaltsverantwortliche der Firma . Gleichwohl war der Fokus der Kampagne die lokale Immobilienfirma Tornet, welche Mietwohnungen in Stockholm und in Skåne verwaltet. Zu diesem Zeitpunkt wurde sie aufgrund von Wohnungen und öffentlichen Einrichtungen in schlechtem Zustand (obwohl vor ein paar Jahren renoviert worden war), wie z.B. offen liegende Steckdosen und Kabel, klemmende Kellertüren, nicht isolierte Fenster, Flecken in feuchten Zonen, abbröckelnde Farbe auf Schranktüren, Probleme mit der Toilettenspülung usw., von fast allen gehasst.
Mitte April kam es erneut zu Ausschreitungen: Im gleichen Quartier wurde eine Recyclingstation in Brand gesetzt und ein Auto zerstört. Auf umliegenden Wänden und in der Recyclingstation wurde erneut Graffiti mit Forderungen angebracht, die nun zunehmend wie Drohungen tönten: „Senkt die Mieten oder tragt die Konsequenzen“, „Halbiert die Mieten“, „Denkt an die 50%“ und „Hans, du wirst sterben“ (Hans Erik Hjalmar ist der Verwaltungsverantwortliche der 500 Wohnungen) .

Eine erwähnenswerte Tatsache, welche möglicherweise zur Erhöhung der Spannungen vor den Ausschreitungen in Stockholm beigetragen hat, ist die Tötung eines lokal bekannten 69-jährigen Mannes durch die Polizei in Husby. Gemäss seinen Nachbarn habe er Drohungen gegen die Behörden ausgestossen und als die Polizei nach Verstärkung rief, sperrte er sich in seiner Wohnung ein. Die Polizei öffnete daraufhin die Tür mit Gewalt und warf eine Blendgranate herein und als der Mann aus der Wohnung rannte, wurde er erschossen – Zeugen sagten, schwer bewaffnete Polizisten hätten 14 oder 15 Mal auf ihn geschossen. Nach seinem Tod verfasste die Polizei eine öffentliche Erklärung, in welcher sie behauptete, er sei mit dem Krankenwagen ins Spital gefahren worden, doch gemäss jungen Leuten aus dem Quartier, welche den Vorfall gesehen hatten, sei der Körper des Mannes lange liegen gelassen und dann einfach in einem Leichenwagen abtransportiert worden. Eine Demonstration gegen Polizeigewalt wurde in Husby am 15. Mai von Megafonen organisiert. Wie in Rosengård 2008 kam es nicht unmittelbar zu Ausschreitungen. Während einer Woche stiegen die Spannungen Tag für Tag. Erst sechs Tage später kam es zu Ausschreitungen. Am Abend des 19. Mai lockte eine Gruppe junger Leute die Polizei, die lokale Feuerwehr und die Ambulanz nach Husby, indem sie Dutzende von Autos, einige Lastwagen und eine Garage in Brand setzte. Die Polizei, welche zum Schutz der Feuerwehr da war, wurde bei ihrem Eintreffen mit Steinen und Brandbomben beworfen. Die Ruhe kehrte relativ schnell wieder ein. Der nächste Tag in Husby war mehr oder weniger wie der erste, doch die Anzahl Randalierer war auf über 50 angewachsen. Die Polizei wurde wegen brennenden Autos gerufen und bei ihrem Eintreffen, zusammen mit der Feuerwehr, wurden Steine auf ihre Autos geworfen. Vier Bullen wurden verletzt und die Fenster lokaler Schulen und Läden zerstört. Etwas früher am gleichen Tag, weniger als 24 Stunden nach dem Beginn der Ausschreitungen, veranstaltete die Organisation Megafonen eine Pressekonferenz, während welcher sie die Realität der Segregation und der Polizeigewalt betonte.

In der dritten Nacht gingen die Ausschreitungen in Husby weiter, dehnten sich jedoch auch auf Jakobsberg aus, eine nördliche Vorstadt, wo der lokale Polizeiposten angegriffen, ein Kunstzentrum in Brand gesetzt wurde und zwei Schulen beschädigt wurden. Alles in allem wurden 30 Autos verbrannt und acht Leute in dieser Nacht verhaftet. In der vierten Nacht brannte es an 90 verschiedenen Orten. Wie gewöhnlich wurde die Polizei, als sie zur Unterstützung der Feuerwehr eintraf, von allen Seiten mit Steinen beworfen. Ein anderer Polizeiposten wurde in Kista in der Nähe von Husby mit Steinen angegriffen und zwei Polizeiposten im Süden Stockholms wurden beschädigt. In Skogås in der Gemeinde Huddinge wurde ein Restaurant in Brand gesetzt. Die einzige Polizeieinvernahme dieser Nacht war jene eines Mädchens im Teenager-Alter, die verdächtigt wurde, eine Brandstiftung vorzubereiten aufgrund der Brandbeschleuniger, welche sie unter ihrer Jacke trug – sie wurde zu ihren Eltern nach Hause geschickt. Viele andere junge Leute wurden ebenfalls zu ihren Eltern nach Hause geschickt, ohne Einvernahme. Diese vierte Nacht war die erste, während welcher Hunderte von Eltern, Quartierbewohnern und Mitglieder der oben genannten Organisationen auf die Strasse gingen, um die Gewalt und die Brandstiftungen zu beenden. Sie wurden häufig als „Bürgerpatrouillen“ (medborgargarden) bezeichnet. Die Ausschreitungen dehnten sich dann auf die südlichen Vorstädte aus, begleitet von den gleichen Praktiken: in Brand gesetzte Autos, Angriff gegen die Bullen mit Steinen, wenn sie zur Unterstützung der Feuerwehr eintreffen. Ein Polizeiauto wurde in Brand gesetzt und während dieser Nacht brannten in Malmö Autos und es flogen Steine auf die Polizei.

In der fünften Nacht wurden Dutzende Autos, drei Schulen und ein Polizeiposten in Brand gesetzt. Das Feuer breitete sich an 70 verschiedenen Orten aus, v.a. in Rinkeby (fünf Autos), Tensta (eine Schule), Kista (ein Kindergarten), Jordbro (ein Auto und ein Supermarkt), Älvsjö (ein Polizeiposten) und Norsborg. Steine wurden in Södertälje auf die Bullen geworfen. Es patrouillierten immer noch Hunderte zur Wiederherstellung der Ruhe freiwillig auf den Strassen und die Polizei war etwas aktiver, denn es kam diese Nacht zu 13 Einvernahmen, alles Leute zwischen 17 und 26. In der sechsten Nacht brannten weniger Autos in Stockholm (30-40), wo Polizeitruppen aus Malmö und Göteborg die lokalen Einheiten verstärkten. Die Ausschreitungen dehnten sich nun auf andere Städte aus, wie z.B. Linköping, 235 km von Stockholm entfernt, wo ein Kindergarten, eine Primarschule und einige Autos brannten; Uppsala, 70 km nördlich von Stockholm, wo eine Schule und ein Auto brannten und Randalierer eine Apotheke beschädigten; Örebro, 160 km nördlich von Stockholm, wo eine Schule und mehrere Autos brannten, ein Polizeiposten angegriffen und ein Bulle verletzt wurde. Die siebte Nacht war vergleichsweise ruhiger: Eine Polizeipatrouille wurde in Vårberg südlich von Stockholm angegriffen; in Jordbro wurden Steine auf die Bullen geworfen, als sie versuchten, einen Jugendlichen zu verhaften. Schliesslich wurden in der achten Nacht weniger als zehn Autos in Brand gesetzt, was, gemäss dem Polizeisprecher, als „Rückkehr zur Normalität“ betrachtet werden konnte.

Gewissermassen war also 2008 das Jahr, welches die Ausschreitungen unserer Zeit nach Schweden brachte, wobei eine Praxis davon, die Brandstiftung an Autos und Gebäuden, in gewissen Vororten der grossen Städte alltäglich wurde. Brandstiftung und deren notwendiges Gegenstück, die Intervention der Polizei, sind hier Teil des normalen Lebens. Es wird gesellschaftlich nur als ein „Ereignis“ betrachtet, d.h. in die mediale und politische Sphäre gebracht, wenn es von Konfrontationen mit der Polizei, oder Brandstiftungen an Gebäuden wie z.B. Polizeiposten, Läden und Schulen begleitet wird. Wie wir gesehen haben, können die Ausschreitungen als „Ereignisse“ und in einigen Fällen die Praxis der Brandstiftung nicht von den öffentlichen Erklärungen, den Besetzungen und den Forderungen isoliert werden, welche sie begleiten. Die Praktiken der Ausschreitungen tendieren dazu, mit der Sprache der Forderungen zusammenzufliessen.