Gegen das Vergessen, Teil 3: Zwischen Stadtguerilla und Punk – die anarchistische Bewegung im Athen der 80er Jahre

Gegen Ende der 70er Jahre war Christos Tsoutsouvis eine zentrale Figur bei ELA. Nach einem Studienaufenthalt in Österreich war er 1975 nach Griechenland zurück gekehrt und dann von der Bildfläche verschwunden. Im Oktober 1977 gehörte er zu dem Kommando, welches als Reaktion auf die Morde an den Gefangenen in Stammheim einen Bombenangriff auf AEG in Athen durchführen wollte, dabei war der ELA – Mitbegründer Christos Kassimis erschossen worden (siehe Gegen das Vergessen, Teil 2).
Tsoutsouvis war an der Zeitung Antipliroforisi beteiligt und an zahlreichen Kommandoaktionen. Im Gegensatz zu vielen anderen ELA Mitgliedern vertrat er eher anarchistische Positionen. Seine Vorschläge zur Finanzierung der Gruppe, nämlich Banküberfälle durchzuführen, konnten sich nicht durchsetzen weil die eher marxistisch orientierte Mehrheit dadurch eine Entfremdung von den Massen befürchtete. Diese Meinungsverschiedenheiten spiegelten sich auch in Antipliroforisi wieder, wo dem Milieu der anarchistischen Drop-Outs und kriminellen Gegenkulturen als Basis revolutionären Potentials, mehrere Artikel gewidmet wurden.

Im Januar 1980 verließ Christos Tsoutsouvis ELA und formierte ein neues Team, wobei er viele Aktivisten mit zog. Dimitris Koufondinas, zu diesem Zeitpunkt beim ELA Ableger LAS aktiv, verabschiedete sich auch, nicht ohne vorher drei Siemens Lastwagen zu verbrennen. Seine neue Gruppe, Revolutionäre Linke, griff Energieversorger und Fahrzeuge der US Militärbasen an, sie wollten die bewaffnete Bewegung durch polymorphe, militärisch-politische Aktionen upgraden.
Die Erklärungen von Revolutionäre Linke endeten mit einem Slogan den auch die Gruppe 17. November benutzte: „Für Volksmacht und Sozialismus.“

Im Dezember 1980 wurden im Zentrum Athens die beiden größten Kaufhäuser durch Brände zerstört, verantwortlich erklärte sich das bis dahin unbekannte Revolutionäre Team Oktober 80 (O80). Christos Tsoutsouvis wird von einigen Quellen die Gründung dieser Gruppe zugeschrieben, die in ihrer Erklärung zu den Brandanschlägen ausführte:

„Lasst uns alles was wir nicht enteignen können oder wollen zerstören, es dient nur dem Profit der Bosse.“

Der Anschlag war nicht unumstritten, weil er 1300 Angestellte arbeitslos machte, die Bullen holten sich zahlreiche Anarchist*innen dafür zum „Verhör“.


Diese Brandanschläge sorgten für Streit, Kaufhäuser Minion und Katranzos völlig zerstört

Oktober 80 verstand sich nicht als traditionelle bewaffnete Organisation und erklärte nach weiteren Bombenanschlägen: „Niemand wurde je durch Aktionen von anderen befreit.“ Die Gruppe soll sich durch Texte von Alfredo Bonanno inspiriert gefühlt haben, die damals ins Griechische übersetzt wurden.

Auch das Jahr 1981 wurde von zahlreichen Bomben- und Brandanschlägen in Athen geprägt, die einen hohen Druck auf die Polizeiführung auslösten. ELA hatte sich zu einigen bekannt aber sich auch von anderen, insbesondere auf Serien gegen Supermärkte, distanziert. Kopien von Oktober 80 Erklärungen zirkulierten im anarchistischen Milieu und wurden auch zwei Schwestern und befreundeten Anarchisten zum Verhängnis, bei denen diese Papiere gefunden wurden. Sie landeten für mehrere Wochen in Untersuchungshaft.
Auch die Gruppe 17. November kritisierte Brandstiftungen an aus ihrer Sicht nicht vermittelbaren Zielen. In den Blättern der Bewegung und der bürgerlichen Presse wurde dieser Diskurs ausgetragen. Kleine Zusammenhänge zündelten ebenso in Athen, wie zum Beispiel im Mai 1981 im Viertel Pangrati einen Bus der Firma Grundig als Reaktion auf den Tod von Sigurd Debus nach seinem Hungerstreik im Hamburger Knast.

In dieser Phase von öffentlichen geführten Richtungsstreitereien zwischen 17N und ELA sowie O80, fiel der Wahlsieg der PASOK mit ihrem Kandidaten Andreas Papandreou. Der kündigte ein Kabinett an, in dem viele Posten von ausgewiesenen Gegnern der Obristen Diktatur (1967 – 1974) besetzt wurden. Der Erziehungs- und der Marineminister hatten bei den Attentatsplänen von Panagoulis gegen Junta Chef Papadopoulos eine Rolle gespielt, Landwirtschaftsminister Kostas Simitis hatte 1969 an der Bombenkampagne einer demokratischen Gruppe teilgenommen. Der Innenminister hatte Militante vor den Gerichten der Junta verteidigt. Die neue Regierung erlaubte exilierten Kommunist*innen des Bürgerkriegs die Rückkehr und liberalisierte einige Punkte im Bildungsbereich. Die anarchistischen Gefangenen Filippas Kyritsis, Kyriakos Moiras und Giannis Skandalis wurden freigelassen. Allerdings stürmte die MAT den Knast in Korydallos um eine Revolte niederzuschlagen und brach auch im Januar 1982 die Waffenruhe in Exarchia, indem sie Häuser räumte und einen bekannten Anarchisten für das Schlagen eines Zivilbullen verhaftete.

Außenpolitisch hatte PASOK den Wahlsieg mit einer starken Rhetorik gegen NATO und EU-Richtlinien gewonnen. Zwar stimmte Griechenland in einigen Gremien zur Wut seiner Verbündeten nicht konform, hinter den Kulissen änderte sich aber nichts an der Bündnistreue.
17N erklärte, ihre Operationen wegen dem anti-imperialistischen und demokratischen Regierungs-programm von PASOK auszusetzen.
ELA zündete zunächst noch einige Bomben, verstummte dann aber. Ihre Zeitschrift Antiplirofsiri wurde eingestellt, es erschien aber noch eine lange Abhandlung u.a. über Bombenbau, Erste Hilfe Techniken und Riot Taktiken. Auch Texte der anarchistischen Gefangenen Bouketsidis und Pisimisis wurden abgedruckt, die ein Abrücken der Soligruppen von Unschuldskampagnen für die Freilassung der Gefangenen forderten.

1989 würde ELA die politische und organisatorische Mitverantwortung für ein halbes Dutzend kleinerer und temporärer Zusammenschlüsse übernehmen, die Anfang der 80er Jahre in Athen und Thessaloniki zu verschiedensten Themen aktiv waren.

Punk und Anarchie als Jugendbewegung im Stadtteil

Zwischen 1978 und 1980 entstand die Bewegung der Hausbesetzungen in Griechenland vom Athener Stadtteil Exarchia ausgehend. Grund genug für die Zeitung Rizopastis, Zentralorgan der KKE (Kommunistische Partei Griechenlands), das Viertel als Raum von Angst und Schrecken zu verunglimpfen, in dem Anarchisten ihre Gesetzlosigkeit mit Drogen und einem american way of life ausüben würden, als Provokateure im Auftrag der abwesenden Polizei die Platia besetzen würden.
Außer den Kommunisten glaubte niemand diesen Lügen, stürmten doch die Bullen am 8. April 1980 eine bekannte Taverne im Viertel, verhafteten 100 Menschen und beendeten das Musikprogramm wegen kritischen Texten. Zu diesem Zeitpunkt startete die Regierung eine „Anti-Terror“ Kampagne, die sie mit der Verbreitung von Heroin begleitete, was unter den Jugendlichen nicht wirkungslos blieb. Ein Versuch, anarchistische Gruppen aus Athen, Thessaloniki, Patras, und Agrinio in einer Föderation zu organisieren, scheiterte.

Galten die 70er Jahre als Vorboten einer Revolution, waren die 80er in Exarchia von ständigem Aufstand geprägt. Zunächst hatte sich Viele der erste Generation der Anarchist*innen zurück gezogen, frustriert von den Befriedungsstrategien von PASOK und KKE. Die nächste Generation war aggressiver und gewalttätiger, plötzlich lungerten Punks auf den Plätzen herum. In dieser Phase wurde der exzessive Gebrauch von Molotov Cocktails auf Demonstrationen populär. Als im September 1981 Rory Gallagher sein legendäres Konzert in Athen gab, wollten 40.000 Menschen in das Fußballstadion im Viertel Nea Filadelphia. Die Bullen hatten mit viel weniger Besucher*innen gerechnet und reagierten hektisch. Anarchist*innen waren involviert als stundenlange Krawalle ausbrachen, die sich gegen die Bullen und Shops richteten. Mit dem Erzwingen freien Eintritts entstanden Verbindungen zu „unpolitischen“ Leuten und eine längere Phase kostenloser Konzerte begann.

Punks waren die neuen Feinde für die Presse und die Medien propagierten eine Säuberung der Gegend, was auch angeblich die „normale“ Bevölkerung fordern würde. Einer dieser besorgten Bürger war Makis Voridis, der 1984 von der Vereinigung der juristischen Studierenden ausgeschlossen wurde und die Führung der faschistischen EPEN Jugendbewegung übernahm. Später wurde er Minister einer ND-Regierung.
Im Vorfeld des jährlichen Gedenken an den Polytechnio Aufstand wurde im November 1983 das Büro von Rizospaszis, dem Sprachrohr der KKE von Anarchist*innen angegriffen und zerstört, aus Solidarität mit dem Widerstand von Arbeitern in Polen gegen das stalinistische Regime. Am Folgetag demolierten sie die Kammer für Technische Beratung der Regierung.

Exarchia wird Experimentierfeld für Aufstandbekämpfung – neue Bulleneinheiten und Bürgerwehren aus Blockwarten werden von PASOK (sozialistische Regierungspartei) ins Rennen geschickt. Der Säuberungsplan für Exarchia beginnt am 28.9.1984 – hundert uniformierte Bullen und Zivis marschieren ein, verhaften wahllos Punks und Jugendliche auf den Straßen und Plätzen Exarchias. Diese Einsätze finden nun praktisch täglich statt und am 1. Oktober 1984 fangen die Leute an sich zu wehren. Mit der Razzia beginnt auch eine Straßenschlacht als die Bullen das VOX Kino angreifen.

Am 17. November 1984 sollte ein Konzert „against state repression“ auf dem Gelände des Polytechnio stattfinden, welches im letzten Moment vom Rektor verboten wurde. Ähnliches war auch schon auf Betreiben der KNE in der ASOEE Universität passiert und hatte dort zu Auseinandersetzungen mit Stalinisten und Bullen geführt. Auch jetzt kam es wieder zu massiven Ausschreitungen.
Ein Höhepunkt der anarchistischen Bewegung war im Dezember 1984 der Sturm auf das Caravel Hotel im Zentrum Athens. Dort wurde eine Konferenz der europäischen Rechten ausgetragen, zu der auch Le Pen aus Frankreich eingeladen war. Zum ersten Mal formierte sich eine Demonstration ausschließlich aus Anarchist*innen. Es waren Tausende, die das Hotel angriffen und damit die Absage der Konferenz erzwangen. Für die Demonstrierenden war es ein Aufbruch in eine neue Phase weil sie bewaffnet und gut ausgerüstet auftraten und das nicht spontan sondern geplant.

Die Auseinandersetzungen beim Hotel Caravel:

Die folgenden zwei Jahre, nachdem die MAT (Einheit zur Wiederherstellung der Ordnung) so auf der Platia Exarchia erschienen ist, war die Gegend geprägt von Zusammenstößen und einem Klima der Gewalt; eine Zeit in der kein Stein fest an seinem Platz blieb, Molotovs flogen als das Viertel durch seine Menschen leidenschaftlich verteidigt wurde. Ständige Angriffe auf die Busse der MAT in der Stournari Str. und Harilaou Trikoupi Str. (die gleichen Orte wo sie auch heute noch stationiert sind und angegriffen werden) durch kleine, gut organisierte Gruppen. Im Frühjahr 1985 ist der vorläufige Höhepunkt der Repression erreicht, am 27. April 1985 regnet es Molotovs auf die Bullen, als diese wieder im Viertel wüten, Menschen in Shops zusammenschlagen und acht Personen verhaften.

Eine anarchistische Zeitung ruft für den 9. Mai zu einer Demo auf, Motto: Die Bullen sollen aus Exarchia verschwinden. Trotz Demoverbot sammeln sich die Leute und werden von der MAT zerschlagen. Vierzig Menschen flüchten darauf in die Chemische Universität und besetzen diese bis zum 13. Mai.


Auf dem Dach des Chemio mit Blick auf den Parkplatz, der heute der Navarino Park ist.

Ein Großaufgebot der Bullen belagert das Viertel und riegelt es ab, Faschisten tauchen am Rand auf und unterstützen die Bullen. Nach einer großen Demonstration antiautoritärer Gruppen zur Chemischen Fakultät, kommen die Besetzer*innen heraus.

oben: aus Exarchia unterstützen Anarchist*innen und Bewohner*innen die Besetzung, unten: aus Kolonaki kommend unterstützen Nazis die Bullen:


Mai 1985 – Faschisten greifen die von Anarchist*innen besetzte Chemische Universität an

Die Ermordung von Michalis Kaltezas

Ein weiteres Ereignis sollte für den Stadtteil und seine Bewohner*innen prägend werden. Wie jedes Jahr fielen am 17. November 1985 Bullen in das Viertel ein, um Proteste anlässlich des Jahrestages des Polytechnio Aufstands zu unterdrücken. In diesem Jahr nahmen daran nicht so viele Anarchist*innen teil, diese zerstörten aber das Büro der South African Airlines aus Protest gegen die dortige Apartheidsregierung. Es entwickelten sich Zusammenstöße mit Bullen Einheiten um das Polytechnio herum. Dabei wurde der 15-jährige Michalis Kaltezas in der Stournari Straße ermordet.


17.11.85, Michalis Kaltezas ermordet

Er wurde während der Auseinandersetzungen vom Polizeibeamten Melistas erschossen. Sofort wurde die Chemische Universität besetzt, zu deren Erstürmung durch die Bullen der Unipräsident am nächsten Tag die Erlaubnis gab. Wer den Bullen in die Hände fiel wurde misshandelt, einige Leute konnten durch die Kanalisation entkommen. Es folgten tagelange Unruhen mit den Spezialeinheiten des demokratischen Regimes, auch in Thessaloniki.
Zum ersten Mal seit 1976 wurde ganz Athen von der MAT im Tränengas erstickt. Die Zusammenarbeit von Bullen und Faschisten wurde über deutlich und die Leute verloren jedes Vertrauen in PASOK.

Als Vergeltung griff die Revolutionäre Organisation 17. November am 26.11.1985 einen Konvoi von MAT-Bussen an, der sich von der Station der Spezialeinheiten in Kaisariani auf den Weg nach Exarchia machte. In Höhe des Caravel Hotels schickten drei Männer die Passanten weg, dann explodierte eine ferngezündete Autobombe neben dem Polizeikonvoi. Ein MAT Bus wurde völlig zerstört, wobei einer der Bullen getötet und 15 weitere verletzt wurden.


Die Antwort der Stadtguerilla – gesprengter MAT Bus

Ein Auszug aus dem Bekennerschreiben von 17N:

„Der Mord an dem 15jährigen Schüler Michalis Kaltezas enthüllte die tragische Wahrheit der heutigen griechischen Gesellschaft, ihre politische und gesellschaftliche Schläfrigkeit. Er zeigt, dass die dem Faschismus immer näher kommende PASOK schlimmer ist, als wir dachten.
So passierte das Tragische, dass eine Gesellschaft einen 15jährigen Schüler durch ihre eigenen Leute ermordet – eine der schlimmsten Gewalttaten – es gibt nicht nur keine Reaktion aus breiten Teilen der Bevölkerung, sondern verschiedene Regierungsorgane und Parteien verbreiten auch Mythen, um den Mord zu entschuldigen; Mythen, die zum gesellschaftlichen Faschismus führen.
Der Schüler kann kein Anarchist gewesen sein, auch kein Kommunist oder Linker, weil man in seinem Alter noch keine festgesetzte Meinung hat. Er war ein Jugendlicher, der sich Gedanken macht. Er war unschuldig – und eine Gesellschaft, die statt Lösungen für seine Probleme zu suchen, ihn erschießt, ist keine Demokratie. Die Einzigen, die sonst noch 15jährige ermorden, sind Pinochet und Südafrika.
Michalis soll einen Molotov – Cocktail geworfen haben. Zeugen sagen, dass es nicht stimmt, sonder dass der Polizist ihn einfach so erschossen hat und auf ihn gezielt hat. Was bestätigt wird, wenn man weiß, dass er zu den besten Schützen der internationalen Mannschaften gehört.
Aber dieser Mythos funktioniert nur zusammen mit der Theorie, dass die Aufgabe der Polizei nicht darin besteht, die Gesetzesbrecher festzunehmen und sie der Justiz zu übergeben, sondern dass ihre Aufgabe die direkte Strafe ist. Der Mord an dem 15jährigen ist kein Zufall. Er kommt nach den Morden an Koumis und Kanelopoulos im November 1980; den zehnfachen Schießereien von Seiten der Polizei gegen motorradfahrende Jugendliche,
der Verletzung von 3 Jugendlichen im Mai 83 bei einem Rockkonzert,
der schweren Magenverletzung eines 16jährigen durch Schüsse, der von der Polizei angehalten wurde und weiter fuhr,
den Schüssen auf einen 14jährigen, der aus einem Heim abgehauen war,
den Schüssen auf einen 17jährigen, der versucht hatte, eine Apotheke zu beklauen,
und der Ermordung einer englischen Touristin während einer Personenkontrolle.
Die Regierung ist verantwortlich für die Methoden der Polizei, die nicht davor zurückschreckt, Jugendliche für kleine Straftaten zu erschießen. Und diejenigen, die unsere Tat erschreckend finden, sollten uns sagen, was sie gemacht haben, um die Verhältnisse zu ändern.
Aber dieser Mord war ein Manöver, um von den Auseinandersetzungen am 17.11. abzulenken, um die brutalen Einsätze von Polizei und Militär zu decken. Diese Auseinandersetzungen sind nicht durch den Mord entstanden, aber genau wie in England sind die Ausgangspunkte immer Kleinigkeiten wie Personalienfeststellung usw. Der wahre Grund sind die großen gesellschaftlichen Klassenunterschiede in Griechenland, die Wirtschaftskrise, die neuen Maßnahmen, die Arbeitslosen und die aussichtslose Zukunft der Jugend.
Diese Arbeitslosen sind keine Anarchisten, es sind unorganisierte Linke. Die organisierten Anarchisten glänzen durch ihre Abwesenheit. Sie verbrachten ihre Zeit mit verbalen Auseinandersetzungen im Gebäude des Polytechnio und versuchten, die Kämpfe zu verhindern.
Unsere Bombenanschlag gegen den Bus ist eine Antwort auf den Mord, eine Antwort auf die milde Strafe für den Mörder, eine Antwort auf die Tatsache, dass die einzigen, die auf den Mord regierten, zusammengeschlagen und festgenommen wurden.
Für die Volksmacht und den Sozialismus! Der Kampf geht weiter!
Athen, den 26.11.1985“


Auch die Juristische Fakultät Nomiki war 1985 Ziel von Angriffen der Bullen

Die Bedeutung der Demonstration am 17. November schwankte in den nächsten Jahren ständig, 1986 war es einer der größten anarchistischen Blöcke, in diesem Jahr wurden neue Versuche unternommen die anarchistische Bewegung zu einigen. Das scheiterte aber und der anarchistische Raum blieb fragmentiert. 1987 begannen dreitägige Unruhen schon mit der versuchten Kranzniederlegung von Regierungsvertretern auf dem Unigelände und 1989 beteiligten sich nur wenige Anarchist*innen an diesem Block.

Zum Jahreswechsel 85/86 schrieben die Zeitungen vom „Staat von Exarchia“, der als Ort der Prostitution, Kriminalität und Drogen dargestellt wird, wofür Anarchisten verantwortlich wären.
Als am 17. Februar 1986 Anarchisten eine Gruppe von Heroindealern vom Exarchia Square vertreiben, werden sie von Bullen verhaftet, die auf die Hilfe der Dealer bei der Zerstörung der sozialen Beziehungen angewiesen sind.

Konfusion bei Bombenkampagnen

Nachdem vielen Militanten klar wurde, dass eine PASOK Regierung nicht ihre Wahlversprechen umsetzen wird, stieg die Zahl der Bombenanschläge rapide an. Für Verwirrung sorgt, dass viele neue, kleinere Zusammenschlüsse aktiv wurden, aber sowohl 17N als auch ELA unterhielten Bombenteams, die unter anderem Namen operierten. Teilweise wurde sich später dazu bekannt oder entsprechende Behauptungen der Presse zurück gewiesen. Dadurch wurde immer wieder Spekulationen über False Flag Operationen neue Nahrung gegeben. Die meisten Stadtguerilla Gruppen dieser Zeit waren marxistisch und anti-imperialistisch orientiert, sie glaubten an die zu gewinnende Volksmacht und besonders 17N und ELA griffen regelrecht in den Wahlkampf 1989 ein, als Papandreou wegen Korruption abtreten musste. Doch am Horizont schien bereits der Verstärkte Einfluss der Anarchie auf, diese hatte bei der Massenmilitanz die Bedeutung von Maoisten, Trotzkisten und sektiererischen Linken zurück gedrängt. Daraus ergibt sich auch das Bedürfnis von 17N in ihrer Erklärung zum Anschlag auf den MAT Bus im November 1985 gegen die Anarchisten zu schimpfen. Allerdings war es auch die marxistische Gruppe 17. November, die im Februar 1985 den Zeitungsherausgeber Nikos Momferatos liquidierte, der während der Junta als Industrieminister diente.

ELA verdächtigte ihren Dissidenten Christos Tsoutsouvis hinter der Gruppe Anti-Militär Kampf zu stehen, die sich im März 1983 zur Erschießung des Herausgebers einer rechten Zeitung bekannte. Tatsächlich war Tsoutsouvis in verschiedensten Bombenteams aktiv und überfiel auch zu deren Finanzierung Banken.
Mit Sicherheit gehörte Christos Tsoutsouvis zur Gruppe Anti-Staats Kampf, die am 1. April 1985 den Staatsanwalt Theofanopoulos erschoss. In ihrer Erklärung schrieben sie dazu:

„Heute übernehmen wir die Verantwortung für die Hinrichtung des Staatsanwaltes Theofanopoulos.
Die Hinrichtung was für ihn das traurige Ende einer noch traurigeren und schädlichen Lebensbestimmung, die er selbst getroffen hat und so sich auch für sein Ende entschied. Er war keine x-beliebiger Staatsanwalt. Gedeckt durch die Sicherheit, die ihm der Schutz der Polizeirevolver und die Gesetze gewähren, wurde er in einem solchen Maße dreist und überheblich, dass er auch Abscheu in einem Teil des Justizapparates hervorgerufen hat. Er war ein Söldner, der nicht zögerte, andere Menschen mit absoluter Kälte ins Gefängnis, unter die Folter und sogar in den Tod zu schicken. Er hat sich das Recht herausgenommen, über Leben und Schicksal anderer Menschen zu entscheiden, ein Recht, das wir ihm heute geraubt haben. Er forderte und nahm die Urteile im Namen des öffentlichen Interesses und versuchte so, davon zu überzeugen, dass die Interessen aller identisch seien mit denen der Arbeitgeber und des Staates, dem dieser Elende diente.
Ihr alle, Bullen, Richter, Zeitungen, Parteien und Minister, werdet morgen schreien, dass die Demokratie ins Wanken gerät, die Terroristen vernichtet werden müssen, die Spitzel ihre Arbeit nicht gut genug machen und dass die gesellschaftliche Ruhe gestört ist.
Wir werden auch nicht auf die gesellschaftliche Ruhe Rücksicht nehmen, die sowie so nie bestand. Wir werden uns nicht an sie halten, weil wir an dem Krieg teilnehmen wollen, der euren Schlaf in einen Alptraum verwandeln wird, außerhalb der Gesetze und gegen die Gesetze der Unternehmer und des Staates. Wir werden unser Schicksal und unsere Leben in die eigenen Hände nehmen.“


oben links: Polizeifoto des erschoßenen Christos Tsoutsouvis, rechts: ein Bulle neben der Leiche von Christos Kassimis – bei dem gescheiterten Anschlag auf AEG 1977 konnte Tsoutsouvis entkommen.

Diese Gruppe wurde auch beschuldigt, wenige Wochen später beim Überfall auf einen Geldtransport, einen Bullen und einen Security erschossen zu haben. Am 15. Mai 1985 observierten Fahnder aus einem Auto heraus im Stadtteil Gyzi ein gestohlenes Motorrad. Als zwei Verdächtige auftauchten, kam es zu einem Schußwechsel bei dem alle drei Bullen getötet wurden und ein Verdächtiger entkam. Christos Tsoutsouvis blieb tödlich getroffen liegen. Der lebte seit 1981 im Untergrund und war in Exarchia ein angesehener Kämpfer. Ihm zu Ehren kam es in den folgenden Tagen in den größeren Städten Griechenlands zu schweren Ausschreitungen.

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1979 von der Gruppe um Tsoutsouvis hingerichtet – Folterspezialist Petros Babalis


von Tsoutsouvis am 15. Mai 85 erschossene Bullen

ELA gab eine Woche später folgende Erklärung ab:

„Am 15. Mai um 16.30 hat in der Amfikiliastraße im Stadtteil Gyzi ein Gefecht zwischen einer Gruppe Kämpfer und den Organen der innerstaatlichen Unterdrückung B.Bura, G. Degeni und G. Georgou stattgefunden. Die bewaffnete Auseinandersetzung entstand aus einer den Kämpfern gestellten Falle und aus der hinterhältigen und verbrecherischen Frechheit der Sicherheitsorgane heraus, als sie versuchten, die beiden Kämpfer zu ermorden.
Der Kämpfer Christos Tsoutsouvis wurde im Alter von 32 Jahren getötet – von den frevelhalften Kräften, welche die bewaffneten Staatsapparate des kapitalistischen-imperialistischen Systems einsetzen, um sich vor dem Klassen- und revolutionären Kampf zu schützen, der gegen sie geführt wird. (…)
Der Kämpfer Christos Tsoutsouvis wurde 1976 Mitglied des Revolutionären Volkskampfs – ELA – und nahm über mehrere Jahre an seiner gesamten revolutionären politischen Praxis teil. 1980 trat er aus dem ELA aus, um seinem eigenen Ziel zu folgen, dessen politischer Charakter nicht mit der ideologischen und politischen Praxis des ELA zusammen ging.
Vor dem politischen Wechsel von der Junta-Regierung zur Regierung von Karamanlis am 27.7.1974 und den letzten zwei bis drei Jahren der Junta – Diktatur (seit er 19 Jahre alt war), beteiligte er sich an der Aktivität einer politischen Gruppe des revolutionären Widerstands, die ganz sicher auf keinen Fall eine Gruppe der damaligen Gesamtgriechischen   Befreiungsbewegung (PAK) gewesen ist, weil PAK im Wesentlichen bloß ein oppositioneller Apparat einer innenpolitischen Partei war. (…)
Nach der Diktatur setzte der Kämpfer Christos Tsoutsouvis seine politische Praxis unter den neuen politischen Verhältnissen fort und arbeitete in verschiedenen politischen Initiativen mit, welche die Neugestaltung der Volks- und revolutionären Bewegung in unserem Land zum Ziel hatten. Er nahm direkt und indirekt an vielen Aktionen der revolutionären Volksgewalt gegen das kapitalistische – imperialistische Regime teil. Er arbeitete an vielen verschiedenen Punkten vom Gruppen mit politischer Initiative mit und half bei der publizistischen Tätigkeit sowie in der übrigen politischen Praxis von Gegenöffentlichkeit in den Jahren 1977 – 1980. In der Nacht vom 19. auf den 20. Oktober 1977 war er Teil der ELA – Gruppe, die das Fertigwarenlager und die Büros der multinationalen Firma AEG in Brand setzten versuchte. Das Ziel dieser Aktion war die Unterstützung der deutschen revolutionären Kämpfer, welche die westdeutsche Regierung ermordet hatte, und zugleich ein konkreter Schlag gegen eine der wichtigsten Stützen des kapitalistisch – imperialistischen Regimes, was die multinationale Firma ist. Während dieser Aktion kann es zu einem bewaffneten Zusammenstoß mit den Organen der staatlichen Unterdrückung, K. Plessa und I. Stergiu, der den Tod des Gründungsmitglied der ELA, Christos Kassimis, zur Folge hatte.“

Tsoutsouvis stand für eine Verschiebung inhaltlicher Schwerpunkte der Stadtguerilla Gruppen von einer anti-imperialistischen zu eher sozialrevolutionären Praxis. Das wurde nicht von allen Militanten unterstützt, ein Brandanschlag am 15. Juni 1986 auf das Büro der Regierungspartei PASOK, zu dem sich eine Anarchistische Aktion bekannte, war die Ausnahme.

Der üblichen Tradition entsprechend, sich nach getöteten Genossen zu benennen, bekannte sich zu den Bombenanschlägen auf das Ministerium für soziale Ordnung und das Polizeirevier in Gyzi am 25.8.87 eine Gruppe ‚Christos Tsoutsouvis‘. Die Erklärung, die sie in einem Papierkorb in der Patisionstraße hinterließen, hatte folgenden Wortlaut:

„Der Mord an G. Stamatopoulos macht deutlich, daß selbst der letzte Bulle das Recht hat, über Tod oder Leben zu entscheiden. Da er und sei­nesgleichen mit den Wertevorstellungen des pro­vinziellen Kleinbürgertums und Cowboyallüren gesäugt wurden und beeinflußt sind von den amerikanischen Serien wie Hillstreet , Kojak, Kid, glauben sie, daß sie die Ungeheuer und Verbrecher der griechischen Unterwelt zähmen könnten, diejenigen, die mit 15 Jahren die Um­erziehungsanstalten schwänzen, Kuluriverkäufer , Kleinhehler, Bettler, Rocker, kleine Einbrecher.
Treu der Traditionen von Mallios , Babalis und Karathanasis zögern sie nicht, auf Demonstra­tionen zu schießen, Bürger zu verfolgen und überhaupt jeden erdenklichen Menschen zu ter­rorisieren. Die neurotischen Würmer mit dem Dienstrevolver repräsentieren nicht nur den Charakter der Sicherheitsbehörden sondern auch den persönlichen Charakter des neuen Men­schentyps den sie herziehen: Den Bullen.
Die Gesellschaft, die sich die Herrschenden ausmalen, kann sich nur auf solche Menschen stützen. Die Bullen sind die Leute, die sich mit der Brutalität der Menschenunterwerfungsmecha­nismen Identifiziert haben. Sie sind In Ihrer Barbarei die Menschenwärter der morgigen Dach­aus, die Hunde der Bouboulinastraße , die heutigen Folterer in den Polizeirevieren. (…)
Wir sind nicht nur gekommen, um die Morde der Bullen an den Bürgern zu rächen sondern auch um den letzten Bullen davon abzuhalten, die Pistole zu ziehen, denn wir kennen keine höheren oder niederen Bullen, weder Bullenfrauen noch Bullen­familien, da sie bewiesen haben, daß sie wie Furi­en in Häuser eindringen, Kinder, Frauen und Alte foltern und töten.
Bewaffnete Organisation Christos Tsoutsouvis“


Anarchist Michalis Prekas

Im Milieu dieser Militanten bewegte sich Michalis Prekas, ein Anarchist und Unruhestifter aus der Unterschicht. Am 1. Oktober 1987 wurde er im Viertel Kalogreza bei einem Schusswechsel mit Bullen getötet als er sich auf der Flucht vor einer Spezialeinheit in einem Haus verbarrikadierte. Seine Begleiter Christoforos Marinos und Klearchos Smyrna wurden festgenommen. Danach behaupteten die Bullen ihn als Beteiligten an verschiedenen Anschlägen unterschiedlicher Gruppen identifiziert zu haben, u.a. am Bombenanschlag auf eine AEG Niederlassung in Solidarität mit Gefangenen der RAF in Deutschland. ELA gab später eine Erklärung für Prekas ab, die eine Verbindung zu anarchistischen Strukturen nahe legt.


Bullen auf der Jagd in Kalogreza


Die bewaffneten Mörder schaffen die Leiche von Michalis Prekas fort

Der korrupte Premierminister Andreas Papandreou (PASOK) wurde nach etlichen Skandalen vom Parlament aus dem Amt gedrängt, vorgezogene Neuwahlen sollten die Nachfolgepartei der Junta, Nea Demokratia, an die Macht bringen. Diese bediente sich dafür der KKE, die im Wahlbündnis Synapsismos der ND zur Regierungsübernahme verhelfen wollte. Das Wahlergebnis im Juni 1989 ließ nur eine absurde Koalition aus ND, KKE und PASOK zu, so dass die Demokratie weiter an Ansehen verlor. ELA und 17N hatten im Wahlkampf mehrere Richter, Staatsanwälte und Politiker getötet oder verletzt und Bomben gegen Behörden gerichtet. Ihre Erklärungen plädierten für Wahlboykott, korrespondierten aber mit den Artikeln einer empörten Zeitungslandschaft und stellten dadurch eine Art Wahlbeteiligung der Stadtguerilla dar.

Die vorherigen Teile dieser Serie findest du hier.