Bericht aus Griechenland: Die Kommune von Exarchia wächst und verteidigt sich selbst, ein Rückblick auf die Schlacht

In Ermanglung besserer Berichte vom 6. Dezember hier eine Übersetzung von Insurrection News.

“Ons Danse le Lachrymo…”
Graffiti, France, July 2016

„Genosse, willst du hier drauf aufpassen während ich einen werfe?“ Er ist groß, vermummt von Kopf bis Fuß in schwarz und mir bekannt. Während er spricht, deutet er auf eine Milchkiste voller Molotovs.
„Sicher … leg los,“ sage ich während ich eine Zigarette anzünde und verweile um den wertvollen Waffenbunker zu bewachen während er das Ding auf den sozialen Feind wirft. Zehn Minuten später kommt er zurück und trotz der dunklen Nacht, seiner schwarzen Kleidung und dem Schatten in dem wir stehen, leuchtet er vor Freude – wie der Molotov, den er geschleudert hat.

Strategie

Die Strategie war einfach und neu für die Anarchist/innen – das schlagende anarchistische Herz von Athen, von Griechenland, vielleicht der Welt, verteidigen. Blockieren, stoppen und zurückwerfen aller Versuche von Athens Polizei, den Exarchia Platz zu erreichen. Und das in koordinierter Weise mit all den unterschiedlichen Gruppen, Teams und Squats. Jeder Zusammenhang übernimmt Verantwortung für ein oder zwei Straßen – sicherstellend das diese effektiv blockiert sind. Das im Gegensatz zu vorherigen Jahren, als die Randale zersplittert, unfokussiert war und gewöhnlich in Zusammenstößen ums Polytechnio, dem Universitätskomplex einige Blöcke vom Platz entfernt, mündete.

In diesem Jahr spielten Polytechnio und Umgebung nicht so die Rolle aber der Exarchia Platz sehr wohl. Letztendlich war die Strategie, Gebiet zu nehmen und befreit zu halten, eine Gemeinschaft zu befreien – wenn auch nur für Stunden.
Der Strategieplan beinhaltete die Blockade alle Zugänge zum Platz und durch den Aufbau eines zweiten Systems von Barrikaden, die Neutralisierung der leider unversorgten Gassen, die die größeren Straßen verbinden. Diese Gassen waren eine der echten Gefahren dieses Plans, denn sollte die Polizei eine Barrikade nehmen, hätten sie Zugang zu einer oder mehreren angrenzenden Straßen und Barrikaden erlangt. Die Barrikade, deren Verteidigung mein Team übernommen hatte, war so gelegen, dass die Seitenstraße den Bullen den Vorteil gegeben hätte, uns seitlich und von hinten aufzurollen.

Nicht gut. Um dieser Bedrohung zu begegnen, wurde eine Serie von kleineren Barrikaden in diesen Gassen errichtet um jede aggressive Macht zu bremsen, die sich von einer Straße zur nächsten bewegen will, ein Verteidigungspunkt nach dem anderen. Schließlich bestand die Hoffnung, dass an ein oder zwei Punkten, die Anarchist/innen hart genug würden drücken können um die Kämpfe die Straße hoch zuschieben, um das eigene Gebiet zu erweitern und eine Polizeieinheit von Verstärkungen abzutrennen oder noch besser, zum Rückzug zu zwingen.

Der große Nachteil dieses Barrikadensystems war klar – wenn eine oder mehrere genommen würden, hätte die Polizei die Möglichkeit jeder verbleibenden Barrikade in den Rücken zu fallen. Ein ungemütliches Szenario. Allen schien das bewusst zu sein und als die Auseinandersetzungen in anderen Straßen hörbar wurden, sah ich mehr als eine/n Rioter nervös über die Schulter gucken, in Erwartung eines Polizeiangriffs von hinten. Glücklicherweise ist das nie passiert.

Taktiken

Die hauptsächliche taktische Komponente auf anarchistischer Seite war die Barrikade, errichtet zur Verteidigung und als Waffe. Die Barrikaden in Exarchia variierten von Straße zu Straße. Meistens niedrig, manchmal Hüfthoch, gelegentlich höher aber nie über Augenhöhe, damit die Kämpfer/innen darüber blicken und auf Polizeiangriffe reagieren konnten. Die meisten bestanden aus Reifen, Holz von Baustellen, großen Blumenkübeln von den Gehwegen und alles was aus dem Boden oder einer Mauer gerissen werden konnte, wurde genutzt um die Barri etwas zu erhöhen. In einem Fall wurden zwei stählerne Polizeiabsperrungen genutzt um eine Gasse zu blockieren. In vielen Fällen fingen Barrikaden Feuer, entweder absichtlich oder aus Versehen. Einmal angezündet, konnten die Feuer unkontrolliert abbrennen.

Die aktuelle Kampftaktik war es, die Sicherheitskräfte zu verhöhnen und zu beleidigen, mit sprachlichen und physischen Mitteln. Dazu gehörte es vor der Barrikade zu stehen und Steine auf die Bullen zu werfen um diese von ihrer Position zu vertreiben. Gelegentlich konnten Sprechchöre von verschiedenen Barrikaden gehört werden, ich konnte nur Rufe wahrnehmen, die die Bullen als Mörder bezeichneten. Die Bullen rückten vor und wurden durch Hagel von Molotovs und Steinen zurück geworfen. Einmal wurde die Barrikade an der ich war von den Bullen genommen, aber nur für einen Moment. Ein sofortiger Gegenangriff der Anarchist/innen trieb sie zurück die Straße runter. Es tut gut einen Bullen beim Rückzug zu beobachten, besonders wenn der Boden um sie herum in Flammen und Rauch steht.

Die Taktiken der Bullen sind schwer einzuschätzen. Sie scheinen einem Schema aus unterschiedlichen Schikanen und Schnüffeleien zu folgen. Sie schienen Personal von einer Barrikade zur nächsten zu verlegen während der Nacht. An der Barrikade an der ich war, waren sie sehr aktiv mit drei oder vier Vorstößen pro Stunde, gewöhnlich beginnend mit einem Hagel von Blendschock-Granaten, gefolgt von Tränengas, Mengen von Tränengas; dann ein Vorstoß und ein Rückzug.

Ich sah diese Taktik immer wieder angewendet, in fast jeder Straße. Einige Straßen, die am frühen Abend heiß umkämpft waren, waren ein oder zwei Stunden später verlassen. Andere Straßen, so wie meine, spürten die volle Wucht des Kampfes. Dort war eine Barrikade an einer bergab gehenden Straße, was den Bullen einen taktischen Vorteil beim Angriff erlaubte, die während des Kampfes keine Schlüsselstellung war. Ich glaube das der Grund dafür, die Behinderung des Rückzugs auf der abfallenden Straße war. Schließlich half das Wetter den Aufständischen – es war eine feuchte, regnerisch kalte Nacht. (Anmerkung d. Übers.: das kann bezweifelt werden, Regen in Athen hilft immer den Bullen, den Aufständischen erschwert er schnelles agieren.)

Zwei Fußgängerzonen, ausgelegt mit Platten die bei Nässe scheiße rutschig werden, waren nicht umkämpft. Die Bullen bemerkten, das auf diese glatten Oberfläche keine sicheres rennen und zurückziehen möglich war. Fast alle aufständischen Kräfte mögen unfreundliches Wetter um reguläre Truppen zu bekämpfen. Ein Typ der Spezialeinheiten sagte mir, dass Regen bei 45 – 55 Grad Fahrenheit ziemlich demoralisierend für reguläre Soldaten wirkt. In seinen Worten, „Es zieht dir die Moral raus.“ Athen am Abend des 6. Dezember 2016 war Nieselregen bei Temperaturen um 50 Grad Fahrenheit. Perfekt.

Waffen

Der Exarchia Molotov ist eine brillante technische Innovation dieser Waffe und es Wert zur Kenntnis genommen zu werden. Meistens nehmen sie 500 ml Bierflaschen, zur Hälfte oder etwas weniger gefüllt mit Benzin. Dann geben sie sie ein Stück Stoff in das Benzin und befestigen den Rest an der Flaschenöffnung als Zündschnur. Die traditionell baumelnde Zündschnur ist ein Relikt der Vergangenheit. Damit werden zwei Dinge erreicht, erstens weil die Flasche nur halb gefüllt ist, zieht der Stofffetzen Benzin und verdichtet die verbliebene Luft mit Benzindämpfen. Und verwandelt damit den Exarchia Molotov von einem einfachen Brandsatz in – eine Bombe.

Das verdammte Ding explodiert in einer massiven roten Flamme und das verbliebene flüssige Benzin verbreitet Feuer auf alles was es berührt. Außerdem ergibt das Wickeln des mit Benzin getränkten Stofffetzens an der Flaschenöffnung eine perfekte „Zündschnur“, die einfach angezündet und geworfen werden kann ohne das Risiko einer Selbstverletzung durch ein flatterndes, brennendes Kleidungsstück. Ich würde gerne den Leuten begegnen und gratulieren, die dieses Ding entwickelt haben. Es ist genial, es ist einfach und die Athener Polizei hasst sie wie die Pest – aus gutem Grund.
Der Exarchia Molotov ist eine Furcht erregende und effektive Waffe.

Einige GenossInnen haben die Entwicklung weiter getrieben mit einem angehängten Kanister, der beim Aufschlag explodiert. Ich hab keine Ahnung was in diesem Kanister ist und fragte einen der Typen, der dieses höllische Mittel warf, wie das funktioniert. Aber weil er kein Englisch sprach und ich kein Griechisch, bleibt es ein Geheimnis. Die Explosion ist laut, wie eine Blendschock-Granate, und verteilt brennendes Benzin in der Umgebung. Vielleicht demnächst mehr Informationen darüber.

Geworfene Brocken von allem möglichen. Die verzweifelste Sache, die ich in jener Nacht in Exarchia sah, waren Aufständische die sich drängelten um etwas zum Werfen in die Hände zu bekommen. Eine Szene, an die ich mich immer erinnern werde, war eine Gruppe junger Leute, die gegen einen einzementierten Poller traten um ihn zu lockern. Endlich hatten sie Erfolg, wobei zusätzlich Betonstücke produziert wurden. Fliesen, die aus Mauern gerissen wurden, leere Flaschen, alles was nicht richtig befestigt war, wurde herausgerissen und auf die Polizei geworfen.
Zusätzlich sah ich Zwillen und eine echte David-gegen-Goliath Schleuder im Einsatz. Als Geschosse wurden Kugellager, Mamorstücke, Steine oder Betonstücke verwendet. Das sind eindeutig Waffen zur Belästigung, eingesetzt während Flauten um die Polizei wütend zu machen und sie zu demoralisieren.

Schließlich, verbunden mit den Waffen der Polizei, hat für die AnarchistInnen der Gebrauch von Gasmasken essentielle Bedeutung. Es war kaum Wind in der Nacht vom 6. Dezember und selbst kleine Mengen Tränengas waren verheerend weil sie sich in der feuchten, unbewegten Luft der Winkel und Hausflure sammelten.

Auf der Bullenseite gab es wenig neues, die üblichen Verdächtigen. Blendschock-Granaten, in Athen werden sie nicht verschossen sondern per Hand geworfen. Verheerend in ihrem Repertoire ist Tränengas, brasilianische Tränengas. Da schon kürzlich in Frankreich begast, werde ich langsam ein Kenner des Tränengases und ich kann euch versichern, das griechische Gas ist dicht, stechend und scharf – mehr als die französische Variante. Als Erste-Hilfe-Mittel gibt es Riopan.

Eine Art Maalox, aber in handlichen Einzelpackungen. Der Boden um verschiedene Barrikaden herum war vermüllt mit diesen weißen Verpackungen. Und die Gesichter vieler Aufständischer sahen wie Clowns aus, beschmiert mit der weißen Flüssigkeit, bis auf die Augen.

Schlachtordnung

Anarchist/innen: 800 – 1.000. Organisiert in Teams zwischen fünf und zehn KämpferInnen. Die aus Exarchia waren für bestimmte Barrikaden zuständig und kümmerten sich um ihren Bereich. Die von außerhalb Exarchias zogen umher, der Sound der Blendschock-Granaten führte sie in bestimmte Straßen, Militante bewegten sich hektisch von Barrikade zu Barrikade, wenn die Bullenangriffe Ort und Intensität wechselten. Während Flauten hingen viele in Exarchia rum, tranken Bier, unterhielten sich und suchten nach mehr Material zum Werfen. Die Anzahl verringerte sich während der Nacht auf vielleicht 200, bis die Militanten schließlich die Waffen ablegten und die Feindseligkeiten gegen 23 Uhr einstellten. (Anmerkung d. Übers.: andere Quellen sprechen von Auseinandersetzungen bis 01 Uhr, danach zogen sich die Bullen zurück)

Bullen: 200 – 300 (geschätzt). (Anmerkung d. Übers.: andere Quellen schätzen 1.000 Bullen im Gebiet um Exarchia herum, die Presse hatte den Einsatz von 6.000 angekündigt.) Basierend auf meinen Beobachtungen der Anzahl eingesetzter Kräfte pro Angriff ( maximal 20 Bullen) und der Anzahl der gleichzeitig angegriffenen Barrikaden – bis zu fünf, und der Anzahl von benötigten Bullen für Logistik, Unterstützung, Kommando, Reserven und Verkehrssperrungen in dem Bereich.

Schnappschüsse

Während ich 24 Stunden nach der Schlacht auf der Insel Lesbos sitze und diesen Text schreibe, kommen mir einige Szenen ins Gedächtnis. In einem Raum sitzend die Vorbereitungen für die Nacht diskutierend, viele Militante stehen herum, nervös voller Energie vor dem Start. Während ich die Molotovs bewache kommen einige italienische Genossen vorbei. Sie fragen nach einem Molotov, den ich ihnen zur Verfügung stelle und wir stimmen überein, dass die Griech/innen etwas sehr richtiges getan haben.
Einer jungen Frau helfen, die vom Gas betäubt wurde und, als das Riopan in ihre Augen und Nase gelangte, sich schnell erholte. Wie eine zugedröhnte Person plötzlich nüchtern wird, erholte sie sich und sagte: „Danke Genosse,“ drehte sich um und ging zurück zur Barrikade zu der sie gehörte.
Der Anblick brennender Barrikaden, große Lichtbögen der Molotovs wenn sie spühend fliegen und in den Reihen der Polizei einschlagen. Das Rufen, Skandieren, Lachen, Unterhalten – das Gefühl endlich lebendig zu sein. Es stehen einem die Haare zu Berge wenn die Blendschock-Granaten explodieren und Tränengas-Geschosse auftreffen und die Straße einnebeln.

Zum Schluß auf dem Rückweg zu meinem Apartment, bemerkte ich einen kleinen Laden, der geöffnet war, mit einigen Leuten beim Kartenspiel im Hintergrund. Ich klopfte an die Tür – brauchte Tabak und etwas zu Trinken. Sie musterten mich und fragten von wo ich komme, einige Fragen bis schließlich ein älterer Mann mich fragte: „Hast du die Riots heute Nacht gesehen?“ – „Ja“, antwortete ich um nicht zuviel preiszugeben. „Und auf welcher Seite bist du, mit den jungen Leuten oder den Bullen?“ Zögernd sagte ich: „Mit den Jugendlichen, immer.“ Er grinste breit und antwortete: „Wir auch.“

Paul Z Simons aka El Errante

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