1. Mai in Paris

Irgendwann fangen die Dinge an, sich zu verselbstständigen. Dann ist es nicht mehr eine Frage der politischen Perspektive, des Kräfteverhältnisses, der theoretischen Analyse. Dann geht es nur noch um ganz praktische Fragen, nur noch darum, sich in der Zuspitzung behaupten zu können. Mensch mag dies bedauerlich finden oder gar verurteilen, es spielt keine Rolle mehr, die Situation schafft sich ihre eigenen Gesetze. Viele Bewegungen haben diese Momente erlebt, einige sind daran gewachsen, andere daran gescheitert.

Es waren einige zehntausend am 1. Mai in Paris, die an der Demonstration zum ersten Mai teilgenommen haben. Gewerkschaftler, K-Grüppler, Syndikalisten, Anarchist*innen, aber auch viele, die sonst nicht am 1. Mai auf die Strasse gehen.

Was vor einigen Wochen, länger ist es noch nicht her, als spontane, militante Praxis einiger weniger Antagonisten begonnen hat, ist mittlerweile die Angelegenheit Tausender geworden. Wie selbstverständlich trägt man mensch Schutzbrillen gegen das allgegenwärtige Tränengas, beteiligen sich immer mehr Leute an den Kämpfen mit den Bullen. Wie schon am letzten Aktionstag am vergangenen Donnerstag konnte von einer Demo im eigentlichen Sinne keine Rede mehr sein, immer wieder Angriffe der Bullen, Unmengen von Tränengas, der Demonstrationszug in mehrere Teile gespalten, die vorderen Teile eingeksselt. Irgendwie gelang es dann doch anzukommen am Endpunkt, dem Platz der Nation, dort dann sofort weitere Kämpfe mit den Bullen. Am Abend dann Scharmützel am Platz der Republik, wo sich allabendlich die Nuit Debout trifft. Später dann die Räumung des Platzes, gegen heftigen militanten Widerstand.

Es sind besondere Wochen in Frankreich. Viele mögen die militante Praxis auf den Demos nicht teilen, Vorbehalte oder Angst haben, doch mit jedem Angriff der Bullen, jeder neuen Tränengasgranate, die inmitten der Menschen landet, werden ihrer weniger. Es ist unglaublich, wie wenige sich abwenden, nach Hause gehen, dass die Demo gestern trotz aller Bullenangriffe tatsächlich noch am geplanten Endpunkt angekommen ist, ist einfach unbegreiflich. Vielleicht wird es nicht gelingen, die geplanten Verschlechterungen des Arbeitsgesetzes zu verhindern, aber es entsteht gerade etwas, was über diesen konkreten Kampf hinaus weist, etwas wovon in den nächsten Jahren gezehrt werden kann.

(Quelle)