der folgende Text wurde von linksunten übernommen:
An erster Stelle: Der folgende Text ist eine Gedankensammlung, geboren aus Diskussionen. Insofern ein Diskussionsvorschlag. Nicht die Politische Wahrheit und auch auf keinen Fall objektiv. Er ist nicht der Weisheit letzter Schluss sondern im Gegenteil ein Angebot gemeinsam bohrenden Fragen nachzugehen.
Er bezieht nicht alle Erfahrungen und Perspektiven ein, sondern ist zutiefst subjektiv. So wie alle Texte…An zweiter Stelle ersteinmal ein großes Danke an die Initiator_innen der Versammlung. Oft diskutiert, finden offene Versammlungen zu bestimmten Themen leider viel zu selten statt.
Und so war es wohl für viele (wenn auch nicht die Moderation) abzusehen, wie die Veranstaltung im SO36 laufen würde. Die Meisten von uns sind es einfach nicht mehr gewohnt auf offenen Versammlungen zu reden. Auch fehlte im Vorfeld jegliche Ankündigung (der ja existierenden) Wünsche der Moderation in welche Richtung sie diskutieren möchte. Es wäre gut gewesen, zumindest die Leitfragen im Vorfeld zu veröffentlichen, damit Menschen sich in ihren Zusammenhängen schon Gedanken zu den gewünschten Fokussen machen können.
Zu erwarten, dass auf einer offenen Versammlung mit mehreren hundert heterogen zusammengewürfelten Menschen „Beschlüsse“ gefasst werden, erscheint merkwürdig.
Denn zum Einen kommen auf einer solchen Versammlung (nun einmal) eine Menge an unterschiedlichen Inputs, die ersteinmal verarbeitet und analysiert werden müssen, es stellt sich auch weiterhin die Frage wer da eigentlich für wen spricht. Aus einer antiautoritären Perspektive kann eine solche VV in keiner Weise eine „Entscheidungsinstanz“ sein.
Eine offene VV „spricht“ nicht für andere. Alle Anwesenden können nur für sich selbst sprechen, sie können auch aus ihren Organisationen erzählen, aber sie können nicht Beschlüsse fassen, die dann als ansatzweise verpflichtend für Andere interpretiert werden können.
Kommt ein Zusammenhang für sich zu einer anderen Perspektive und handelt den „Beschlüssen“ dann zuwider, bedeutet das, dass sich dieser Zusammenhang „unsolidarisch“ verhält?
Das klingt verdächtig nach Politikvorstellungen von Kaderorganisationen wie der IL.
Abgesehen von dieser Grundsatzkritik an der „Konsensfindung“ solcher offenen VVs: Es ist ja auch kaum möglich sich auf einer solchen Veranstaltung wirklich miteinander auseinanderzusetzen und dadurch zu versuchen irgendeinen, wie auch immer gearteten, Konsens zu erreichen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, für die Kürze nur ein Beispiel:Nicht alle können auf einer solchen VV alle Positionen offen vertreten. Oder glaubt irgendwer ernsthaft, dass 600 Anwesende das Statement: „Wir müssen aus unserer Wut was Schönes machen, statt die Konfrontation zu suchen“ (polemisch paraphrasiert) ernsthaft als Konsens? Auch wenn es dafür Applaus und keine direkte Gegenrede gab?
Zudem: Eine offene Versammlung ist (nun einmal) kein Bündnistreffen, in dem organisierte Gruppen (von formell bis informell) Zusicherungen machen können. Gerade im Zuge der Refugeeproteste ist zu beobachten, dass eine ganze Menge Menschen sich nun das erste Mal mit radikalerer Politik beschäftigen und momentan noch auf der Suche nach Anschluss sind. Organisierteren Zusammenhängen stellt sich ja eh das Problem, dass sie die diversen Vorschläge und Inputs erst diskutieren müssen.
Was sagen also irgendwelche Handzeichen aus? Maximal grobe Stimmungsbilder der Anwesenden.
Wer diese aber nun sind, was dies am nächsten Tag im politischen Alltag heißt ist dabei völlig unklar. Eine Abstimmung per Handzeichen, ob „wir“ jetzt „Bärgida plattmachen“ ist insofern leider nichtssagend und auch falsch und eben das Gegenteil einer auf Vertrauen und Affinität aufbauenden Verabredung.Eine offene Versammlung ist eine gute Plattform, um andere kennenzulernen, sich inhaltliche Inputs anzuhören und sich vielleicht auch vorsichtig ein Stimmungsbild zu machen. Sie ist definitiv keine „Institution“, kein „Sprachrohr“, geschweige denn irgendeine Entscheidungsinstanz.
Soviel zur solidarischen Kritik. An dieser Stelle drei Vorschläge für die Zukunft:
-*; Gerade für Menschen, denen eine solche Versammlung Möglichkeiten bietet Anschluss zu finden wäre es gut, das nächste Mal einen Ort zu haben, an dem sich schon bestehende Initiativen vorstellen können. Dies kann zum Beispiel durch einen genau hierfür eingeplanten Infotisch am Eingang geschehen.
-*; Ein grober Ankündigungstext im Vorfeld würde Organisierten die Möglichkeit eröffnen Themen schon zuvor zu diskutieren. Die Sorge, hierdurch „inhaltliche Räume“ zu bestimmen ist durchaus berechtigt, allerdings war dies auf dieser Versammlung durch die Leitfragen auch so der Fall, insofern wäre es schlicht transparenter und zielführender gewesen dies auch im Vorfeld darzustellen.
-*; Weniger „Beschlüsse“ mehr Plattform
Auf anderen offenen Versammlungen sind bis jetzt gute Erfahrungen gemacht worden, wenn Großgruppen in kleinere aufgeteilt wurden. Diese Dynamik gab es (leider erst sehr spät) auch während dieser Veranstaltung, als dazu aufgerufen wurde sich nach der Versammlung zu bestimmten Themengebieten zu treffen. Dieser Raum könnte von Anfang an eingeplant werden, sodass zum Beispiel am Ende ein Zeitfenster von mindestens einer halben Stunde bleibt, in dem sich Menschen zu Schwerpunkten treffen können.Abseits davon ein weiterer Vorschlag:
Die Frage nach der langfristigen Sinnhaftigkeit einer solchen Vollversammlung für ganz Berlin sollte definitiv gestellt werden. In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob es nicht (parallel?) einen Reiz hätte kleinere lokale offene Versammlungen abzuhalten. Das Thema Refugees, Rassismus und Mob werden uns leider noch länger beschäftigen. Dass dem nur begegnet werden kann, wenn wir uns wieder mehr begegnen und Strukturen miteinander finden, ist offensichtlich. Berlin ist jedoch groß. Eine regelmäßige Veranstaltung mit einigen hundert Teilnehmenden wird schnell ihre Dynamik und ihren Reiz verlieren (siehe zum Beispiel die AVV). Deshalb an dieser Stelle ein Plädoyer für offene Kiezversammlungen zum gleichen Thema. Dies würde die Gelegenheit bieten:
a) Menschen einen vereinfachten Anlaufpunkt zu geben
b) In kleineren Rahmen zu diskutieren
c) Durch eine Organisation über möglichst viele Kiezversammlungen könnte jedoch erreicht werden, dass Informationen durch diese auch weiterhin weit verstreut würden.
d) Ebenso könnten lokalere Versammlungen sich auch zielgerichteter mit Kiez-spezifischen Problemen auseinandersetzen.Bei allem Berlin-Gehate so vieler Menschen bleibt doch festzustellen, dass diese Stadt immer noch mit die beste Infrastruktur Europaweit zu bieten hat. In fast jedem Viertel dieser Stadt gibt es antifaschistische Zusammenhänge. Viele von ihnen veranstalten auch schon offene Abende. Die Frage ist jetzt also, ob es machbar ist, diese Infrastruktur (wieder) zu nutzen, um regionalere Anlaufpunkte für Austausch und Diskussion zu bieten.
Nach diesen Bemerkungen zur Versammlung selbst einige weitergehende inhaltliche Gedankengänge
5000 in Dresden – 100 Gesichter in der BZ: Gemeinsam gegen Fremdenhass?
Auf der Versammlung war erneut deutlich zu merken, dass es momentan einige Widersprüchlichkeiten innerhalb der (wie auch immer gearteten) antifaschistischen „Szene“ gibt. Wollten einzelne Stimmen „weitsichtiger über Perspektive“ diskutieren, drangen andere darauf sich an einzelne Ereignisse abzuarbeiten.
Dabei wäre diese allgemeine Debatte bitter notwendig. Dies zeigt in aller traurigen Deutlichkeit die Demonstration in Dresden als Reaktion auf Heidenau. Antifaschistische Politik stand schon immer in einem Spannungsfeld: Geht es natürlich darum, den Mob und Jenen, die ganz konkret mit Knüppeln, Pistolen und Brandsätzen das Leben von Menschen gefährden, direkt entgegenzustehen, so darf doch auch nie vergessen werden, dass dieser Mob eben nicht aus dem Nichts kommt. Wer als Reaktion auf den rassistischen Mob meint nach Dresden zu einer Großdemo zu mobilisieren um den „Aufstand der Anständigen“ loszutreten (http://www.dresden-nazifrei.com/ ) hat wohl so Einiges der Debatten seit den 90ern verschlafen.
So sehr die Bilder von Heidenau betroffen machen und zum Glück dazu führen, dass sich so einiges wieder regt, Freundschaften erneuert und hoffentlich Strukturen wieder aufgebaut werden:
Das Problem ist nicht primär der braune Mob. Autonome Zusammenhänge (bspw.: http://www.ari-berlin.org/ ) zählen seit der Wiedereingliederung der DDR kanpp 200 durch Rassist_innen Ermordete. Das Mittelmeer wurde alleine dieses Jahr das Grab für Tausende von Menschen, in ganz Europa sind Menschen täglich auf der Flucht, während sich in Ungarn rechte Bürgerwehren gründen, ähneln die Zustände vor Lageso im Herzen von Berlin immer mehr denen in Calais. Das Bedürfnis gegen die heutigen Verhältnisse Zeichen zu setzen ist nachvollziehbar. Doch jede_r muss in sich selbst gehen und überlegen, ob es darum geht praktisch was zu ändern, oder das eigene Gewissen zu besänftigen. Die bürgerliche Gesellschaft und ihre Institutionen haben ganz konkret ein Vielfaches mehr an Menschen auf dem Gewissen, als (die trotzdem gefährlichen) vereinigten Neonazis Westeuropa sich auch mittelfristig erhoffen können.Oder wie der großartige Redebeitrag auf der Versammlung herausstrich: „Wir brauchen keine Solidarität, die uns jetzt ernährt, sondern eine, für einen radikalen Wechsel“
(Friedliche) Demonstrationen gegen Rassismus bewirken momentan hauptsächlich eines: Sie wirken als Korrektiv der bürgerlichen Gesellschaft. Sie waschen das Bild Deutschlands rein vom Rassismus und spielen denen in die Hände, die gerne ihre eigene rassistische Politik als Sachzwang darstellen wollen. Und so können die Gaucks, Maizeres und Merkels dieses Landes sich jetzt am braunen Mob rethorisch abarbeiten und sich damit von ihrem eigenen, tödlichen Rassismus lossagen.
Eine radikale Antifa-Bewegung, der es darum geht, die Zustände zu beenden, die Menschen dazu bringen, Menschen umzubringen, sollte sich dieser Gefahren bewusst sein. Und sich die Suche nach wirklicher praktischer Solidarität begeben, statt sich dem dummen Spiel um die Diskurshoheit hinzugeben.
Und so stellen sich momentan zwei Fragen:
1) Wie ist der braune Mob daran zu hindern, Menschen anzugreifen?
Neben anderen offensichtlichen und notwendigen Interventionsmöglichkeiten (Notfallketten, hinfahren), lohnt es auch hier wieder sich an die 90er zurückzuerinnern. Damals bestand ein Ansatz daran, sich wieder konsequent und offensiv mit rassistischen Täter_innen zu beschäftigen. Denn der „Mob“ kommt nicht von ungefähr. So sehr die bürgerliche Gesellschaft sein Nährboden ist, so sehr gibt es immer Einpeitscher_innen und Organisator_innen der Gewalt. Berlin bietet hier eine Fülle an Recherchematerial, das viel zu selten genutzt wird. Statt sich zu überlegen, sich dauernd heiß zu machen, weil 10 NPD-Hanseln irgendwo ihre Reden schwingen, wäre darüber nachzudenken, diese mal wieder zu Hause zu besuchen. Wer es angesichts der Bilder von Heidenau nicht im Sessel aushält, jedoch auch keine Möglichkeit sieht dahinzufahren, kann sich überlegen, die Kamerad_innen um die Ecke zu besuchen.
Und auch hier bietet sich eine Fülle von Aktionsformen, je nach eigener Einschätzung, Kapazität und Kraft. Es muss nicht nur die nächtliche Aktion sein. Die x-tausendste Sponti durch Kreuzberg, reißt keine_n mehr vom Hocker. Eine wütende Sponti zur Seelenbinderstraße jedoch…Es ist leider wirklich eine klassische Rechnung: Umso weniger radikalen Gegenwind Nazis spüren, umso mutiger werden sie.
2) Wie vermeiden wir es als Korrektiv der bürgerlichen Gesellschaft zu fungieren?
Eine radikale Kritik müsste gerade jetzt eigentlich tief in das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft hinein und damit frühzeitig versuchen zu verhindern, dass sich diese durch den braunen Mob selbst legitimiert. Ein wichtiger Ansatzpunkt kann hier die Auseinandersetzung um das Lagersystem und der Kampf um Bleiberecht sein.
Doch auch hier gilt: Eine radikale Kritik wird revolutionär weniger durch die Wortwahl, als durch die Aktionen.Wir alle kennen die Ohnmacht von reinen Demonstrationen zur Genüge. Die gesammelte Vereinigung der Heuchler_innen in den Entscheidungsgremien der Institutionen lassen sich nicht durch Demonstrationen beeindrucken. Autonome Politik ging schon immer auch darum Fakten zu schaffen.
Und so ist der, auf der Versammlung getroffenen Aussage „Wir wissen, wo die sitzen, die die Häuser öffnen könnten, wir müssen auf die Druck aufbauen“ nur zu entgegnen: Wir wissen wo die Häuser stehen, wir müssten diese nur öffnen. Ein erneuter Rückgriff auf die 90er: Als die Situation in Hoeyerswerda zunehmend unaushaltbarer wurde, sorgten antifaschistische Strukturen dafür, dass die Bewohner_innen des dortigen Lagers eine neue Unterkunft fanden: In der Besetzung der Technischen Universität Berlin.
Konkreter Vorschlag hier wäre „öffentliche Ereignisse“ wie Demonstrationen nicht mehr als rein solche zu planen, sondern mit öffentlichen Aktionen den rassistischen Alltag zu stören.Fragen, die wir uns für die zukünftige Praxis stellen:
Wie können wir effektiv und konkret die rassistische Praxis der Institutionen stören – im besten Falle auch sabotieren?
Was wären Ansatzpunkte um Strukturen aufzubauen, die den bürgerlichen Institutionen entgegenstehen? Wo gibt es diese schon?
Wie können wir die dringend notwendige Solidarität mit Ausgegrenzten organisieren, ohne in karitativer Arbeit staatstragend zu werden?Zum Abschluss nur noch ein kurzer Gedankengang:
Es ist bei fast jeder Veranstaltung zu diesem Thema der Appell zu hören, Menschen sollten Menschen zu Hause aufnehmen. Auch bei der Versammlung meinte jemand, er werde „ja sehen, wieviele sich nachher auf der Lagesoliste eingetragen haben.“ Dazu nur kurz: Ja es mag sie geben, diejenigen, die „Feuer und Flamme den Abschiebebehörden“ rufen und sich dann in ihre WGs und Häuser zurückziehen, in denen sie bloß nicht gestört werden wollen. Und ja, das mögen auch gar nicht so wenige sein. Nur: Wie diese Menschen zu erreichen sind bleibt schleierhaft, über den x-tausendsten moralischen Appell sicher nicht.
und es sollte nicht vergessen werden, dass es seit dem Ankommen der Refugeeproteste in Berlin 2012, der Räumung des O-Platzes und der Schule eine tatsächlich (vermehrt) stattfindende Solidarität gibt. Wenn sich Leute jetzt nicht bereit erklären, Menschen, die vor dem Lageso ausharren müssen ein Zimmer zu geben, hat dies nicht unbedingt etwas mit scheinheilligen Solidaritätserklärungen zu tun. Sondern auch damit, dass gerade seit Räumung der Schule eben schon sehr viele Menschen praktische Solidarität zeigen.Zielführender als – eine verständliche – moralische Verzweiflung an der „Unsolidarität“ selbst erklärter anti-rassistischer Zusammenhänge wäre eine Debatte darüber wie wir Räume nicht nur öffnen sondern auch halten können, die Menschen in Anspruch nehmen könnten.
ps.: Nach Erarbeiten des Textes fand in Berlin diese Aktion statt: https://linksunten.indymedia.org/de/node/152630
Danke. Genau so etwas ist weiter oben gemeint, gerne mehr davon, gerne gemeinsam.