Fünf Jahre sind seit der Räumung der Liebig 14 vergangen, vom damals erprobten dezentralen Konzept ist nicht viel übrig geblieben. Trotzdem glaubt Innensenator Henkel erklären zu müssen, dass Friedrichshain nicht zu seinem Vietnam werde. Was ist seither geschehen?
2. Februar 2011, auf die Räumung der Liebig 14 reagieren autonome Zusammenhänge mit einem dezentralen Aktionskonzept. Der Termin war angekündigt worden und absehbar war auch, dass sich Menschen in dem Haus verbarrikadieren würden und der Widerstand direkt davor auf ein überlegenes Polizeiaufgebot treffen würde. Mehrere Aufrufe bewarben ein dezentrales Vorgehen, um einerseits die Bullenkräfte zu zerstreuen und auch durch einen hohen Sachschaden den politischen Preis für Häuserräumungen in die Höhe zu treiben.
In der Nacht vor dem Räumungstermin ging’s los (Link zum etwas umständlichen Blog), an vielen Stellen in Berlin brannten Autos und splitterten Scheiben. Zwischendurch gab es kleinere Auseinandersetzungen in der Umgebung der Liebigstraße, dann folgte abends eine größere Demonstration, die sich nach Steinwürfen wieder in dezentralen Aktionen auflöste und die Bullen noch weitere Tage vorführte.
Soweit sie bekannt wurden, sahen alle Auswertungen aus dem linksradikalen Spektrum dieses Vorgehen als Erfolg und auch die Gegenseite musste ihre Unfähigkeit, diese Widerstandsform zu verhindern, einräumen. Die abgesagte Räumung des Schokoladens wenig später dürfte auf die Angst vor ähnlichen Störungen zurück zu führen sein.
Im Februar 2013 wurde bei der Zwangsräumung der Familie Gülbol in der Lausitzer Straße in Kreuzberg von mehreren Hundert Menschen versucht, den Einsatz der Cops direkt vor Ort zu stoppen. Andere setzten auch wieder auf das dezentrale Konzept, woran sich zwar nicht mehr so viele Zusammenhänge, wie zwei Jahre zuvor, beteiligten, jedoch war der politische Preis für die Autoritäten hoch und durch überdehnte Raumschutzmaßnahmen der Polizei entstanden Handlungsspielräume.
Die Belagerung des gleichen Teils von Kreuzberg im Juni 2014, mit der die Polizei eine Räumung der GHS in der Ohlauer Straße erreichen wollte, ging für Senat und Bezirk nach hinten los. Zwar hielten sich viele Menschen tagelang vor den Absperrungen auf und erlebten Ohnmachtsgefühle, andererseits entwickelten sich immer wieder dynamische Situationen und dezentral agierende Gruppen verursachten Rauchsäulen und Scherben.
13. Januar 2016, „Operation Maddox“ in der Rigaer Straße
Wenn wir die weiteren Entwicklungen und Stellungnahmen aus der Berliner Polizeiführung und des Innensenators kritisch hinterfragen, sieht es so aus, als ob der Kontaktbereichsbeamte, der an jenem Tag am Dorfplatz vergeblich versuchte Personen festzuhalten, ungefähr die Rolle spielte, die der US-Zerstörer Maddox am 2. und 4. August 1964 im Golf von Tonking hatte, nämlich einen Angriff provozieren oder erfinden, wenn dieser nicht erfolgt. Für die Herrschenden ist es zur Legitimierung immer wichtig, wenn sie aus einer eindeutig überlegenen Position einen deutlich unterlegenen Gegner angreifen, ihre Untertanen, an deren Verlässlichkeit sie zweifeln, von einer Notwehrhandlung zu überzeugen.
Der US-Zerstörer Maddox wurde nicht im Golf von Tonking angegriffen, wie Jahre später auch Regierungsstellen einräumten. Der Vietnamkrieg wurde trotzdem mit dieser Begründung gestartet.
Der Kontaktbereichsbeamte in Friedrichshain wurde auch nicht verletzt, für den folgenden Sturm der 500 Bullen auf die Rigaer 94 reichte die Behauptung aus.
Was das miteinander zu tun hat?
Eigentlich wenig, wenn nicht Innensenator Henkel versichert hätte, die „Rigaer Straße ist nicht mein Vietnam!“
Losgelöst von der Realität und unter einem militärischen Blickwinkel erklärte der Innensenator im Abgeordnetenhaus: „Lieber ein paar Beamte mehr einsetzen als am Ende die Kontrolle über die Lage zu verlieren“. Polizeipräsident Kandt und er seien sich einig, dass man sich nicht wieder auf Straßenschlachten mit der linksradikalen Szene einlassen wolle.
In dieser Eskalationsbereitschaft findet sich nicht die exzentrische Sicht von Henkel oder den Polizeigewerkschaften, sie spiegelt lediglich den aktuellen Stand in der Aufstandsbekämpfung der EU wieder.
Was sich die Bürokratie unserer Sicherheitsgesellschaft für Schweinereien ausgedacht hat und als Einsatzpläne auf dem Dienstweg durchreicht, wissen wir nicht, lesen aber die Unsicherheit in den Phrasen von Henkel und Kandt, ob ihnen das ganze nicht doch noch um die Ohren fliegen kann.
Aus Solidarität war es sicherlich gut, dass am Abend des 13. Januar Menschen an den Absperrungen in der Rigaer Straße standen, viel mehr als Ohnmacht blieb ihnen aber nicht übrig und wäre nicht jetzt oder in den folgenden Tagen und Nächten ein dezentrales Konzept angebracht gewesen? Sei es, um die Bullenkräfte bei ihrem Ausnahmezustands-Manöver im Friedrichshainer Nordkiez zu überspannen oder um einen politischen Rechtfertigungsdruck auf die Entscheidungsträger zu entwickeln?
Indes passierte nicht so viel, zu mehr als einer Aktion pro Nacht konnten sich die Kleingruppenstrukturen dieser Stadt nicht bewegen.
Gab es Zweifel an der politischen Bestimmung dezentraler Aktionen?
Die politischen Entscheidungsträger und ihre ausführenden Organe sind dazu verdammt jeden Einsatz später als Erfolg darstellen zu können. Ein Motiv ihrer Handlungen ist die Notwendigkeit, sich ihren Wähler*innen als geeignete Vollstrecker eines Mehrheitswillens anzubieten. Dieser Mehrheitswille könnte schwanken und Innensenator und Polizeipräsident können ungeeignet erscheinen, wenn ihr Vorgehen hohe Sachschäden verursacht; sie könnten vernünftiger abwägen, ob die von ihnen beherrschte Stadt einen Raum wie die Liebig 14, den M99, die Friedel 54, die Köpi, etc. ertragen kann oder nicht.
Das sture Beharren auf dem Eigentumsrecht des Suitbert Beulker (Besitzer der L14) in Bezug auf die Liebig 14 hat vor fünf Jahren nicht eben zur Popularität des damaligen Innensenators Körting und Pol.Präs. Glietsch beigetragen.
Polizeiliche Mobilisierungen gegen Projekte waren schon immer von medialem Getöse begleitet, in den 80ern wurde die Hafenstraße in Hamburg als Zentrale der RAF bezeichnet, die Wagenburgen in den 90ern wurden mit der Begründung der Seuchengefahr geräumt, Squats galten früher als Fluchtburgen der Kriminellen und meistens muss, fast wie in Vietnam, die Bevölkerung befreit werden, im Görli von dealenden Geflüchteten und zur Rigaer behauptet Jan Stöß (SPD): „Die Menschen im Kiez haben von dieser Hobbyguerilla die Nase voll.“.
Gab es Zweifel an der taktischen Bestimmung dezentraler Aktionen?
Menschen sind empört über das Machtgebaren einer Institution und begeben sich zum Tatort. Dort stehen sie einem zahlenmäßig überlegenen Gegner gegenüber, wer pöbelt oder eine Maßnahme stört, wird festgenommen. Je mehr Wannen den eigentlichen Einsatz verlassen müssen, um zu anderen Brennpunkten zu eilen, desto geringer wird der Druck zum Beispiel auf die Rigaer 94 oder GHS. Dort, wo die Polizeiführung immer mehr Reserven in den Einsatz schickt, um einen Punkt zu kontrollieren, entstehen an anderen Orten Lücken, die Präsenz nimmt ab und Randalierer*innen, Schmierer*innen oder Einbrecher*innen können ihrem Handwerk nachgehen.
Wir müssen uns die Polizeidichte in Berlin wie eine Decke vorstellen, wird sie gefaltet, um an einer Stelle besonders gut zu wärmen, liegt die Stadt woanders frei.
Mit seinen Forderungen nach immer neuen Sonderkommissionen und dem Abzug der Bullen vom Görli, um in der Rigaer eingesetzt zu werden, hat sich ein gewisser Tom Schreiber bereits als unser strategischer Freund beworben. In den Vietcong-Bunkern Friedrichshains werden die Sektkorken knallen, falls dieser Gimpel das Amt des Innensenators übernimmt.
Das eine militärische Denkweise in der Innenpolitik vorhanden ist, beweist das Gerede im Abgeordnetenhaus von Vietnam oder nicht Vietnam in der Rigaer Straße. Wo der Staat einen inneren Konflikt mit einer Vermischung von polizeilichem und militärtaktischem Vorgehen bereinigen will, dürfen wir dieser Eskalationsstufe nicht folgen. Sicher, wenn sich viele Menschen auf eine direkte Konfrontation einlassen wollen, sind weder Blockaden noch Strassenschlachten abzulehnen, im Gegenteil. Aber wo wir im personellen Aufrüsten keine Chance haben, müssen entweder ausschließlich oder zusätzlich dezentrale Angriffe stattfinden.
Sich auf direkte Auseinandersetzungen mit den Bullen um einen bestimmten Raum einzulassen macht nur Sinn, wenn dafür eine Grundstruktur vorhanden ist, wie sie die Köpi mit einem internationalen Aufruf zur Verteidigung des Wagenplatz schaffen könnte. Die Menschen der ZAD (Zone À Defendre) bei Notre-Dames-des-Landes, zu deren Repertoire auch dezentrale Angriffe gehören, formulieren es so:
„In und um die ZAD: – Kommt den Widerstand in der Zone zu unterstützen und sicherzustellen, dass wir nicht eingekreist oder abgeschnitten werden
– Stört die Check-Points und die Bewegungen der Polizei und stellt die Zirkulation der Unterstützenden und Nachschübe sicher.
In der Region: – Vom ersten Tag der Operation an, werden koordinierte Aktionen durchgeführt, die Straßen blockieren, ob nun Zugangspunkte zur Zone oder die Hauptverkehrsadern und strategischen Punkte der Region. Weiterhin wird es Besetzungen von “Orten der Macht” geben (Regierungs- oder private Betreibergebäude und -Büros, Polizeiwachen usw.)
– Nachtlärmdemos vor den Hotels, wo die Polizei und militärische Polizei schläft.
– Für den ersten Abend ist der Treffpunkt für verschiedene Aktionen und Blockaden vor den Polizeiwachen um 18 Uhr.
– Eine große Demo in Nantes eine Woche nach der Intervention
Außerhalb der Region: – Aufruf um “Orte der Macht” zu besetzen oder lokale Aktionen zu planen, die den Kapitalfluss verlangsamen. Diejenigen, die können, sollen zur ZAD kommen, um sie zu verteidigen.“
Ständiges Ziel polizeilicher Großeinsätze ist es, den aufsässigen Elementen ihre Chancenlosigkeit zu beweisen. Dies wird erreicht, indem die Bullen den Zeitpunkt, den Ort und das Konfliktniveau bestimmen. Darauf dürfen wir uns nicht einlassen! Wir müssen selbst genau diese Kriterien für unsere Aktionen bestimmen: Zeitpunkt, Ort und Konfliktniveau.
Wir müssen auch einen Ausweg aus den sinnlosen Mobilisierungen zu den wöchentlichen Gida-Demonstrationen finden. Damit wurde unserem Spektrum viel Energie abgesaugt, wobei wir uns grundsätzlich unter den Bedingungen des Gegners wiederfanden. Durch ein beständigeres Agieren in Kleinstgruppen und in risikoarmen, dezentralen Bereichen, werden mit Sicherheit auch wieder mehr grössere und handlungsfähige Bezugsgruppen entstehen.
Die Vorbereitung für Tag X, Räumung des M99, der Friedel 54 oder des Köpi-Wagenplatzes fängt jetzt an. Wir sollten uns Ziele anschauen, die wir mit zwei bis drei Leuten angreifen können. Es muss nichts Spektakuläres sein, die Masse macht’s.
Die Cops werden vieles nicht an die Presse melden, um kein positives Feedback zu geben.
Wir aber wissen, wenn zum Beispiel in Randbezirken zahlreiche Wall-Bushaltewerbefenster eingeknallt werden, müssen die Bullen dort patrouillieren, wo sie sonst kaum zu sehen sind. Wie mögen sie das finden, wenn sie dann in Reinickendorf in einen Hinterhalt geraten? Oder wenn sie ständig zu fingierten Alarmen eilen? Und dabei womöglich noch in Krähenfüsse fahren?
Vor zwei Jahren erschien ein Bericht über die Ausbildung der brasilianischen Todesschwadrone BOPE durch deutsche Polizeibehörden, damit diese besser Aufstände in den Favelas von Rio de Janeiro niederschlagen können. Die aktuellen Kommentierungen Berliner Sicherheitspolitiker und der martialische Einsatz in der Rigaer Straße lassen befürchten, dass die Unterstützung nicht einseitig war und brasilianische Bullen ihr Know-How an deutsche Kollegen weitergaben.
Zeigen wir ihnen, dass sie diese Auseinandersetzung nicht gewinnen können!
Dezentrale Konzepte für Tag X vorbereiten!
Polizeistaat und Militarismus ihr Vietnam bereiten!