Beginnen wir in Paris. Am späten, sehr späten Abend, nach zahllosen Gesprächen und Debatten bei der zehnten Nuit Debout auf dem Platz der Republik, entschied man sich, Herrn Manuel Valls in seiner Wohnung aufzusuchen, um mit ihm einen Aperitif zu trinken. Angesichts der Vorstellung, dass sich auf einmal viertausend nicht geladenen Gäste in der Wohnung des Herrn Premierminister drängeln könnten, entschied sich die polizeiliche Einsatzleitung einzuschreiten.
Die Wohnung des Premierministers ist ohne Zweifel grosszügig geschnitten, aber viertausend Gäste, nein, pardon, das gehe nun aber doch wirklich nicht.
Da sich die Damen und Herren Demonstranten aber partout nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen wollten und Polizeiabsperrungen einfach durchbrachen oder auf Parallelstrassen auswichen, entschied sich die Polizeiführung jenes Präsent unter das Volk zu bringen, dass dieser Tage desöfteren grossherzig an die Bedürftigen verteilt wird. Die besten und mutigsten Männer des Pariser Polizeicorps warfen bis tief in die Nacht mit jener unbeschreiblichen Grazie, wie sie nur die Pariser Polizisten zu beherrschen wissen, eine Tränengasgranate nach der anderen unter das gemeine Volk, auf das es ihm an nichts fehle. Und obwohl die Herren Polizisten sich dabei wirklich Mühe gaben und die Tränengasgranaten nicht, wie es in anderen Ländern Sitte ist, einfach wild in die Menge schleuderten, sondern angelehnt an die Bewegungsabläufe des Boule-Spiel, mit unbeschreiblicher Raffinesse unter die Leute brachten, wurde ihnen das vom Pariser Pöbel nicht gedankt. Dieser zeigte sich nicht nur undankbar, nein, er erdreistete sich sogar, sich über das Verhalten der ehrenwerten Polizisten zu echauffieren und bewarf diese mit allerlei Gegenständen, errichtete Barrikaden in den Strassen und zerstörte die Schaufensterscheiben zahlloser Banken, die doch mit der Unmöglichkeit, dass Herr Valls am späten Abend all diese Gäste empfange, nun wirklich nichts schaffen hatten. Und als sei es des ungebührlichen Verhaltens nicht genug, zogen Teile des Pöbels auch noch vor ein Pariser Commisariat und richeten dort beträchtlichen Schaden an.
In der Bretagne fing der Samstag früh an. Während der gemeine Pariser Schüler oder die gewöhnliche Pariser Studentin noch einen letzten Milchkaffee schlürfte, bevor sie sich auf den Weg zur Demonstration gegen die neuen Arbeitsgesetze machte, waren in Rennes schon mehrere tausend Menschen auf den Beinen. Die Demonstration zog am Rande der historischen Altstadt vorbei, die von den Bullen systematisch abgesperrt war. An einer der Bullenabsperrungen kam es dann zu ersten Zusammenstössen zwischen einigen Antagonisten und den Bullen. Die Bullen setzen massig Tränengas ein, um die 20 Demonstrant_innen, darunter auch viele an der eigentlichen Konfrontation Unbeteiligte, wurden dabei verletzt. Die Gewerkschaften lenkten die Demo dann weiter und die Lage beruhigte sich vorübergehend. Im Anschluss an die Demo kam es dann aber noch zu umfangreichen Kämpfen mit den Bullen, die über längere Zeit anhielten, bis sich ein Teil der Kämpfenden als Demo zur besetzten Uni zurückzog. Der antagonistische Kern in Rennes, der sicherlich auch durch die Kämpfe um die ZAD von Notre-Dames-des-Landes über jahrelange Erfahrung in Konflikten mit den Bullen verfügt, schien gestern gut ausgerüstet und entschlossen zu sein. Allerdings scheint es auch so gewesen zu sein, dass gestern weniger Menschen an den militanten Aktionen teilnahmen als am letzten Aktionstag in Rennes. Inwieweit dies damit zusammen hängt, dass die Bullen durch die Abriegelung der Altstadt den Konflikt auf taktisch ungünstiges Terrain zwangen, sei dahin gestellt.
In Nantes liess man sich etwas mehr Zeit mit dem Aufstehen. Doch dann kam man auch hier in die Gänge und aus der Demonstration heraus, an der nach Angaben der Bullen 2.600, nach Gewerkschaftangaben 15.000 Menschen teilnahmen, entwickelten sich stundenlange Auseinandersetzungen mit den Bullen. Aufällig war bei den Kämpfen in Nantes, dass sich, wie schon in den vergangenen Wochen, viele Jugendliche an den Aktionen beteiligen, bzw. als copycats ihr eigenes Ding durchzogen. Am Abend fanden sich dann noch mehrere hundert Menschen in Nantes zu einer Nuit Debout zusammen. Im Laufe des Tages konnten die Bullen mit lediglich sechs Festnahmen nicht besonders erfolgreich agieren.
Kommen wir nun zum Tag in Paris. An diesem Samstag gab es keine eigene Vorab-Demonstration der Schüler. Allerdings war dazu aufgerufen worden, sich (als Jugend) an die Spitze der Pariser Demonstration zu setzen, was dann auch mehr oder weniger gelang. Die Demo setzte sich dann etwas nach 14:00 in Bewegung, es waren einige Zehntausend, die Angabe von 100.000 durch die Gewerkschaften dürfte deutlich übertrieben sein. Die Bullen waren auf den Bürgersteigen, besonders neben dem Jugendblock, unglaublich präsent, zogen schon fast so etwas wie ein Spalier auf. Als dann ein paar Feuerkörper und anderes in ihre Richtung flogen, gab es den ersten Angriff mit Tränengas und sie stürmten von beiden Seiten in die Demo, die daraufhin erst einmal auf einer Länge von 200 Meter eine Lücke aufwies. Danach beruhigte es sich aber wieder und die Demo zog weiter. Die Bullen am Rande haben dann immer wieder einiges kassiert, aber darauf verzichtet, massiver vorzugehen. Richtig geknallt hat es erst auf der Abschlusskundgebung, ausgelöst durch eine Horde Zivis der BAC, die provozierend auftraten und wohl auch Festnahmen getätigt hatten. Die mussten dann allerdings schleunigst hinter eine Gruppe Bereitschaftsbullen der CRS flüchten, als ihnen die Steine um die Ohren flogen. Daraus entwickelten sich dann andauernden Kämpfe auf dem Platz der Nation, und die Bullen konnten den Platz erst räumen, als Viele sich auf den Weg nach Hause gemacht hatten. Am Abend dann folgte die mittlerweile zehnte Nuit Debout auf dem Platz der Republik. Dort beliess man es allerdings nicht beim Debattieren, sondern am späten Abend zogen mehrere tausend Menschen zu einer Spontandemo los, in deren Verlauf es zu neuen Zusammenstössen kam (siehe oben).
Die Nuit Debout, das neue Lieblingskind des (nicht nur französischen) Feuilleton hat sich mittlerweile in Paris fest verankert. Nach anfänglichen Schwierigkeiten finden sich seit ein paar Tagen jeden Abend in Paris Menschenansammlungen im vierstelligen Bereich zusammen und auch in anderen französischen Städten finden mittlerweile allabendliche öffentliche Versammlungen mit jeweils einigen hundert Leuten statt. Die ganze Geschichte hinterlässt allerdings auch ein zwiespältiges Gefühl. Es ist überdeutlich, dass hier der, nennen wir ihn intellektuelle Sektor der Gesellschaft, den Ton angibt. Gleichzeitig war der Platz der Republik in den letzten Tagen aber auch mehrmals der Ausgangspunkt für spontane Aktionen und auch antagonistische Gruppen und Zusammenhänge und die Schüler sind auf dem Platz präsent, wenn auch zahlenmäßig marginal. Dass einer der Mitorganisatoren der Pariser Nuit Debout allerdings nach den Aktionen letzte Nacht erklärt hat, die Teilnehmer der Krawalle hätten nichts mit der Nuit Debout zu tun und seien unpolitisch, zeigt auf, in welche Richtung sich die ganze Geschichte auch entwickeln kann. Und mittlerweile ist es also auch gekommen, wie es kommen musste. Mittlerweile sind auch die Multiplikatoren von bloccupy auf dem Platz der Republik im Herzen von Paris aufgeschlagen. Verkünden mit stolzgeschwellter Brust einen neuen europäischen Frühling und auf einmal wird es einem klamm ums Herz, inmitten all des Tränengas und der brennenden Barrikaden. Erinnert man sich mit Schrecken an den letzten europäischen Frühling, der ja angeblich mit dem Wahlsieg von Syriza beginnnen sollte und mit der Männerfreundschaft von Tsipras und Davutoglu endete, die sich ja neuerdings aufs herzlichste duzen und das Schicksal tausender Flüchtlinge besiegelten, die nun zwangweise in die Türkei deportiert werden.
Und so wird dieser Tage auch „grosse Politik“ gemacht von der selbsternannten Avangarde, in den Gewerkschaftspitzen ebenso wie bei den „Bewegungsmanagern“, die bis in Milieu der „linken“ Parteien verankert sind (PCF, bzw. Die Linke) und schon an einem möglichen europaweiten Aktionstag feilen, ohne das dies in den Versammlungen beschlossen wurde.
Doch halt, lassen wir uns diese Augenblicke nicht verderben. Noch passieren in Frankreich unglaubliche Dinge. Und sicher, irgendwann wird auch diese Revolte zu Ende gehen. Werden die Strategen von CGT und FO versuchen, aus dem Geschehen Kapital zu schlagen um am Verhandlungstisch der Regierung einige Zugeständnisse abzuverhandeln. Doch bis dahin werden noch viele Barrikaden errichtet und im Tränengasnebel getanzt werden. Wird das Leben regieren und nicht der Tod, wird gesungen werden auf den nächtlichen Strassen Paris. Jeder Rausch ist nur auf Zeit. Le monde ou rien.