Kiez & Stadtguerilla in Metropolen

Wenn in Metropolen Widerstand gegen die Staatsgewalt geleistet wird, gibt es fast immer Viertel oder Straßenzüge, in denen die AkteureInnen einen Rückhalt haben. Widerstand braucht eine lokale Basis, einen minimalen Teil der Gesellschaft, der militantem Vorgehen nicht ablehnend gegenübersteht und einen Kiez, wo über bessere Ortskenntnisse als die Bullen verfügt wird.

Stadtguerilla in Okmeydanı

Im Gegensatz zu der in manchen Medien im Zusammenhang mit Krawallen häufig und irrtümlich gebrauchten Bezeichnung „Stadtguerilla“ für das Vorgehen von Demonstrant*innen, kann im Istanbuler Bezirk Okmeydanı von deren tatsächlichen Existenz gesprochen werden. In diesem Viertel leben viele Arbeiter*innen und finanziell benachteiligte Menschen. Oft gehören diese zur alevitischen Minderheit, die in der Türkei unter Repression leidet. Dementsprechend hat der Widerstand gegen den Staatsterrorismus hier eine lange Tradition.
Flaschen

Seit der Ermordung des Jugendlichen Berkin Elvan durch eine Tränengas Granate sind die Spannungen mit den Bullen weiter angestiegen. Die Ermordung von Ugur Kurt durch einen Bullen am Rande einer Trauerkundgebung verschäfte das Klima zusätzlich.
Bewaffnete2

Der Widerstand im Stadtteil wird maßgeblich von der DHKP-C getragen. Obwohl es sich dabei um eine marxistisch-leninistische Organisation mit hierarchischer Struktur handelt, kann sie als revolutionäre Gruppe bezeichnet werden, die sich solidarisch zu anderen Zusammenhängen verhält. DHKP-C agiert bei Auseinandersetzungen gemeinsamen mit der MKP (maoistisch), der PKK und zunehmend auch mit anarchistischen Gruppen. Besonders in diesem Kiez fallen Fremde sofort auf, was die Arbeit der zivilen Bullen gefährlich macht aber genauso anderen Gruppen Alleingänge verwehrt. Das bedeutet, Randale findet nur statt, wenn die DHKP-C es unterstützt.

Molliman

Meistens entwickeln sich Auseinandersetzungen in Okmeydanı aus dem Einmarsch von Polizeitruppen in das Viertel. Der Widerstand findet dann weniger in der Form von massenhafter Militanz der Bewohner*innen statt, sondern eher in der organisierten Gegenwehr vorbereiteter Kleingruppen. Die Verteidigung des Viertels basiert also nicht auf spontanen Reaktionen einer Vielzahl von Menschen, eher kann von vorbereiteten Aktionen einer echten Guerilla gesprochen werden, die ihr Eskalationspotential nicht immer ausreizt. Im Gegensatz zu Kämpfen in Exarchia werden nicht ungezielt viele Molotov Cocktails durch die Straßen geworfen, vielmehr werden diese in ihrer originären Funktion zur gezielten Bekämpfung gepanzerter Fahrzeuge eingesetzt.

1.Mai 2014:

Nach dem Mord an Ugur Kurt, Einmarsch mit Zivis in gepanzerten Jeeps:

Die Politik der DHKP-C ist durchaus kritisch zu sehen, im Viertel selbst arbeitet sie jedoch auf basisdemokratischen Strukturen, die einen relativ großen Rückhalt haben.
Zwille
Nach dem Tod der Bergleute in Soma rücken Bullen ein:

Nach der Stürmung eines Vereinslokals:

Wenn diese DHKP-C Gruppen es für sinnvoll erachten, setzen sie auch Schußwaffen ein. Als kurz nach dem Tod von Berkin Elvan Polizei, Paramilitärs und Faschisten in das Viertel einfielen, wurde Burak Can Karamanoğlu dabei von der DHKP-C erschossen, die ihn zu den Grauen Wölfen rechnen.

Kämpferin

Der Anteil von Frauen bei Auseinandersetzungen ist sehr hoch, diese koordinieren auch oft in hektischen Situationen die Kleingruppen.
In dieses Viertel von Istanbul wagt sich die Polizei nur in gepanzerten Fahrzeugen und führt dort kaum Routine Einsätze durch.

In Frankreich konzentriert sich der Zusammenstoß mit dem Staat oft in den Banlieues, wo die marginalisierten Schichten seit Jahrzehnten gegen Repression kämpfen. Über die Unruhen in den Banlieues ist schon einiges veröffentlicht worden, meistens auf französisch. Auf dieser Seite gibts mehr Infos.
Die Aktionen der Jugendlichen in den Vorstädten sind umstritten, sie sind aber verständlich und auch nicht ohne taktische Planungen. Schulen werden als Symbole staatlicher Unterdrückung angezündet, die (oft kleinen ) Autos der Nachbarn werden verbrannt um die Bullen ins Viertel zu locken und sie dort anzugreifen. Die Angriffe erfolgen oft aus Hochhäusern, während gleichzeitig die Straßenbeleuchtung sabotiert wird.

Videos von den Emeutes 2007:

Auch in Exarchia/Athen besteht seit langem die Tradition Konfrontationen mit den Bullen im eigenen Viertel zu suchen. Der Hass auf diese ist unter den BewohnerInnen so ausgeprägt, dass bei Auseinandersetzungen keine Angst vor Kollaborateuren mit dem Staat besteht, auch die geographischen und architektonischen Voraussetzungen sind gut. Enge, verwinkelte Straßen haben die Bullen lange Zeit in eine undankbare Position gebracht. Durch den Einsatz von mehr Motorrädern und schnellerem Eingreifen grösserer MAT Kontingente, wird aber auch in Exarchia die Auseinandersetzung immer gefährlicher.

6.Dezember 2012:

Bericht vom 6.Dezember 2013:

Wie alle Jahre wieder gab es am Gedenktag des 2008 im Athener Stadtteil Exarchia von einem Polizisten erschossenen Alexis Grigoropoulos Randale in Athen. Sieben Verhaftungen und 136 vorläufige Festnahmen fanden gemäß einer ersten polizeilichen Statistik allein in Athen statt. Die Bedeutung von diesem Datum in der griechischen Gesellschaft nimmt ab, es wurde kaum für die beiden Demonstrationen mobilisiert. Auch die anarchistische Bewegung thematisierte das Ereignis im Vorfeld wenig, so wie sie sich in den letzten Jahren auch aus den Aktionen zum 17.November immer mehr zurück zieht.
In den Tagen vor dem 6.Dezember wurden in Exarchia zahlreiche Stromkästen angezündet, was zu einem Ausfall der Straßenbeleuchtung führte. Am 4.Dezember wurde ein Genosse von einem Zivilbeamten ins Bein geschossen, nachdem mehrere Zivis enttarnt wurden.
Unmittelbar nach dem Eintreffen von TeilnehmerInnen der abendlichen Demonstration am 6. marschierten starke Polizeikräfte aus mehreren Straßen auf die Platia Exarchia zu. Sofort entwickelten sich heftige Auseinandersetzungen mit MAT und DELTA. Im Gegensatz zu früheren Jahren versuchen die Bullen inzwischen eine Flucht der Menschen auf den Lofos Streffi zu verhindern indem sie das Viertel von allen Seiten gleichzeitig angreifen. Wofür sie am 17.November nur fünf Minuten brauchten, benötigten sie jetzt mehr Zeit. Zwischenzeitlich zogen sie sich wieder zurück, worauf dann verhasste Computer Shops und ein Supermarkt aufgemacht und angefackelt wurden. Die Bullen wurden auch von Dächern beworfen, weshalb sie mindestens ein Haus stürmten. Die Ausbildung der griechischen Bullen durch andere EU Staaten war sowohl bei der Einkesselung der SchülerInnendemo am Mittag als auch bei ihren Operationen in der Nacht zu spüren. Eine Woche später wurde die Polizeiwache in Exarchia angegriffen.

Quellen: Heise , Contrainfo , linksunten

Der Widerstand in Exarchia ist keineswegs auf militante Auseinandersetzungen beschränkt, seit einiger Zeit gibt es einen Markt, der Lebensmittel direkt von den Erzeugern an die VerbraucherInnen verkauft, unter Umgehung jeglicher Steuern, genauso wie es für Tabak einen Schwarzmarkt gibt. Auch bei der Gesundheitsversorgung gibt es Versuche sich unabhängig vom Staat zu organisieren, siehe Präsentation der selbstorganisierten Exarchia Gesundheitseinrichtung, innerhalb des besetzten Sozialen Zentrums VOX

In Italien brechen seit langem soziale Spannungen aus, besonders in den nördlichen Städten. Turin ist ein Beispiel für die Kämpfe gegen Zwangsräumungen, die hier auf lokaler Basis zu einer Vernetzung von unterschiedlichen Spektren geführt haben. Unter der Parole Basta sfratti! hat sich hier in den letzten Jahren der Widerstand im Kiez organisiert. Mehr dazu in einer Broschüre.
Weil kaum eine Vorstellung zur Geschichte des Widerstands in Italien existiert, ist hier ein kurzes Video zu Auseinandersetzungen 1972 in Mailand verlinkt.

In einigen Vierteln von Brüssel ist es in den vergangenen Jahren regelmäßig zu Spannungen gekommen, nachdem Einwanderer oder andere marginalisierte Gruppen von Polizeigewalt betroffen waren. So zum Beispiel im April 2010 als ein Jugendlicher erschossen wurde. Ein Viertel, welches sich oft wehrt ist Anderlecht, wie hier 2008 gegen Bullen und Nazis. Auch im Stadtteil Molenbeek kommt es öfter zu Spannungen, wie im September 2009 nach der Verhaftung von Jugendlichen. Wirksame Mittel sind dabei die Sabotage der Stromversorgung und Hinterhalte gegen Streifenwagen.
Die anarchistische Bewegung greift seit einiger Zeit in die verschiedenen Konflikte ein, die sich an den Themen Knast und Abschiebung zuspitzen.

Es werden Listen von Firmen veröffentlicht, die vom Knastsystem profitieren und an Abschiebungen beteiligt sind.